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Verzeih meine dumme Frage von vorhin. Die richtige Frage ist doch: wie kann einem das, was anwesend ist, überhaupt Auskunft über das Abwesende geben? Ob das Dorf nun plätschernde Brunnen und ein Thermalbad hatte oder hat, ist irrelevant. Ob die Fabrik noch arbeitet, ob es im Winter nach Silage und im Sommer nach Puderzucker riecht oder nicht. Das Einzige, was wirklich zählt, ist, dass es der Ort ist, an dem im Laufe der ersten Klasse deine Mutter verschwand. Zu Weihnachten war sie noch da, zu ihrem Geburtstag Anfang Februar nicht mehr.

Die Varianten im Laufe der Zeit: im Krankenhaus.

Im Sanatorium.

In der Nervenheilanstalt. In der Klapse.

In Budapest, auf freiem Fuß, aber in einem neuen Leben, und in diesem will sie dich nicht haben. Deine Mutter ist ein Narr, du bist besser dran ohne sie, Alkoholiker kannst du sein, gewalttätig kannst du sein, sensibel darfst du nicht sein, ich will nicht über sie sprechen, und wenn die Kinder in der Schule von ihr anfangen, sagst du ihnen, auch du willst nicht über sie sprechen.

Ich will nicht über sie sprechen.

Aber liebst du deine Mama noch, obwohl sie verrückt geworden ist? Ich will nicht darüber sprechen.

Wer es nicht bis zum Schluss schafft, taucht in der Ergebnisliste nicht auf, so einfach ist es. Ging vom Dorftanz nach Hause, nahm die Schrotflinte, schoss sich in den Mund. Das war ein junger Mann. Die ihn kannten und an jenem Abend gesehen haben, sagten, es habe keine Konflikte gegeben und auch sonst keine Anzeichen. Was siehst du schon. Zu Weihnachten noch da, im Februar nicht mehr. Von da an noch 12 Jahre hier, nein 6, bevor du ins Wohnheim zogst, geschätzt 12 000 Mal die 650 Meter, und es ist völlig egal, in wie vielen Tagen ein erwachsener Mann das nachlaufen könnte. Mist, wirklich, mir fällt nur Mist ein. Stell dir vor, dass sie in der Woche mal gut sind, mal schlecht, aber am Wochenende, wenn das Kind da ist. Was fängst du damit jetzt an? Was?

Darius Kopp öffnet das Fotoalbum in seinem Handy. Suche eine Aufnahme mit Kopf, so schmerzlich das auch ist, das andere kannst du nicht gebrauchen. Da ist eins. Sogar relativ nah aufgenommen, aber sie hat sich bewegt, es ist etwas unscharf, aber wenn man sie kennt, erkennt man sie. Man muss nur ein wenig in der Zeit denken. 18 Jahre alt und blond.

Auf der Terrasse befinden sich ausschließlich Männer. Sie haben Kopp schon vor einer Weile registriert. Ein Fremder, der ins Bad glotzt. Als täten sie etwas anderes. Einige sind zu jung, um sie kennen zu können, aber nicht alle. Ein Kleinwüchsiger auf sehr hohen Plateauabsätzen ist auch mit dabei. Das, zusammen mit der Wölbung seines runden Hinterns, ergibt eine Tuntenhaftigkeit. Wie aus einem Fellini-Film. Gockelt gegen einen anderen: Ki a hülyegyerek? Man lacht. Oh Gott, der Zwerg. Ich hatte auch einen Zwerg. Eine Weile starrt Darius Kopp nun ihn an, er kann nicht anders. Auch das wird bemerkt, natürlich wird es bemerkt. Wer übernachtet wohl sonst in dieser Sport-Pension?

Die Situation rückt einen weiteren Schritt näher Richtung Eskalation, als jemand Neues kommt. Eine junge Frau in einem schulterlosen lila Kleid. Sie ist in Begleitung eines jungen Mannes, aber wie der aussieht, weiß Darius Kopp wirklich nicht, irgendein männlicher Mensch an der Peripherie, unwichtig. Was nicht unwichtig ist, sind die großen braunen Tupfen, die die Haut der Frau bedecken. Keine Sommersprossen. Runde, centgroße Tupfen. Ich weiß nicht, wieso mich das an dich erinnert. Vielleicht, weil sie so ein exotisches Wesen ist. Schön, wie ein Schmetterling. Ich vergleiche jetzt nichts mehr. Ich schaue mir nur diese Schönheit an. Wie im Übrigen jeder andere hier auch, aber was den Einheimischen erlaubt ist, ist dir noch lange nicht erlaubt. Der Begleiter der Schmetterlingsfrau spricht mit der Gruppe junger Männer um den Zwerg, und sie schauen immer öfter her. Lange wird das nicht mehr gut gehen. Sie deuten sogar schon mit dem Kopf in Kopps Richtung. Sogar die Schmetterlingsfrau schaut sich um. In ihrem Gesicht sind keine Punkte. Sie sind eine sehr schöne Frau, wenn ich das so sagen darf. Einer aus der Gruppe, nicht der Zwerg, löst sich jetzt heraus und kommt auf Kopp zu. Kopp schaut schnell wieder in sein Handy.

He, sagt der Mann, der jetzt bei ihm angekommen ist.

Yes, sagt Darius Kopp, mit dem arglosesten Gesicht von seinem Handy aufschauend.

Jaa, sagt der Mann und will gleich wieder gehen.

Excuse me, ruft ihm Kopp hinterher. Jetzt ist es der andere, der nicht mehr zu Hause ist. Er macht keinen Schritt zurück, das kann er nicht, er dreht nur den Oberkörper und neigt ihn ein wenig, um zu sehen, was Darius Kopp ihm zeigt. Möglicherweise irgendeine Schweinerei auf seinem Handy.

Meine Frau, sagt Darius Kopp. My wife. Flora Meier. Meier Teodöra. Sie hat hier gelebt. She used to live here.

Er zeigt es an,»hier«, aber er macht es falsch, er kreist mit dem Finger über dem Boden vor seinen Füßen. Die jungen Männer um den Zwerg herum lachen.

Der Mann aber, der bei ihm steht, merkt seine Ruhe und Ernsthaftigkeit. Hat die Aggressivität, die er mitgebracht hat, abgelegt. Kommt richtig heran, schaut sich das Bild an und winkt dann dem Wirt. Das kindische Gekicher in der Gruppe um den Zwerg ebbt ab. Der Wirt kommt, nicht sehr schnell, schaut sich das Foto an, wieder dauert es, bis er eine Reaktion zeigt. Er schüttelt den Kopf. Als Nächstes kommt der Zwerg, watschelt näher, sein runter Hintern dreht sich. Er nimmt das Handy, als wäre es ein rohes Ei. Für einen Moment befürchtet Darius Kopp, es könnte ein fieser Scherz sein, nimmt es wie ein noch nie gesehenes Kleinod und im nächsten Augenblick schmettert er es mit Wucht auf den Boden — Was würde ich tun? Diese Reise ohne Telefon zu bewältigen, eine Variation, die Darius Kopp bis jetzt nicht einmal in den Sinn kam, unvorstellbar — aber nein, der Zwerg hält das Telefon fest, schaut sich das Foto lange an, dann schaut er Kopp an, schaut sich auch Darius Kopps Gesicht lange an, dann schüttelt auch er den Kopf.