Wenigstens, sagte Kopp milde, falle ich keinem zur Last. All das finanziere ich selbst.
Doch wie lange noch, mein Freund?
Das hat Darius Kopp nicht ausgerechnet. Das auszurechnen und sich dann fallen zu lassen wäre feige.
Ein Idiot bist du! Irgendwann werden sie dich auf die Straße hinuntertragen lassen, wenn du die Raten nicht mehr zahlen kannst.
Bei der Vorstellung daran kichert Darius Kopp. Es gibt wenige Gelegenheiten, bei denen sich ein gesunder Erwachsener tragen lassen kann.
Hör auf mit dem idiotischen Gelache! Was ist mit dem Zimmer da?! Du traust dich nicht, es zu betreten! Was bist du? Garcia Lorca?! (?!?!?!)
Komm, sagte Juri, komm, zieh dir was Sauberes an, wir gehen erst mal was Anständiges essen, dann können wir klarer denken.
Schau, sagte er wenig später, während ihm Korianderblätter im Mundwinkel blinkten, wir wollen doch nur dein Bestes. Potthoff und ich werden dir helfen, ein Storage zu organisieren. Dorthin wirst du fein die Sachen einlagern, während du die Wohnung komplett renovieren lässt. Muck macht es für nur 10 Euro die Stunde. Und wenn sie renoviert ist, verkaufst du sie und sanierst deine Finanzen. Wenn du die Sachen deiner Frau nicht packen kannst, macht es Nadia für dich.
(Ich kenne diese Nadia doch überhaupt nicht. Andererseits: lieber eine Unbekannte.) Und wo, lieber Freund, soll ich in Zukunft wohnen?
Für eine Übergangszeit: bei mir. Es wird Zeit, mein Lieber, dass du dich wieder reintegrierst.
Da hätte man ihm schon in die Fresse.
Sei nicht so hart zu ihm. Er ist, fair betrachtet, ein loyaler Freund. Müht sich ab mit mir, und das seit 8 Wochen tagtäglich. Jetzt haben sie dir sogar einen Job besorgt — Hast du die Stellenanzeigen studiert? fragte Juri, Abonnent einer überregionalen Tageszeitung, etwas häufiger, als es angenehm gewesen wäre. Welche Stellenanzeigen, fragte Kopp zurück — zwar nur befristet, als Computerirgendwas im Dienste des wissenschaftlichen Instituts, in dem auch Halldor irgendwas macht, keine Karriere, aber mehr als gar nichts.
Was das Gerettetwerden durch Tätigsein anbelangt, hat sich Darius Kopps Weltbild seit dem Verlust seines letzten Jobs und insbesondere im Laufe seines Jahres in Klausur modifiziert. Denn entweder wirst du gerettet durch Tätigsein oder durch Nicht-Tätigsein, durch Zufall oder durch Planung oder aber auch durch gar nichts, aber herauszukommen aus Juris Abstellkammer ist ein durchaus zu verfolgendes Nahziel, also, tu wenigstens so, als hättest du Lust auf eine bezahlte Tätigkeit welcher Art auch immer.
Das modernste (sic!) Technologie- und Gründerzentrum beherbergt elf außeruniversitäre und zahlreiche inneruniversitäre Institute sowie junge Unternehmen in spannenden Feldern wie Life Science und Ost-West-Nord-Süd-Wirtschaftsbeziehungen, ein jedes davon in (erneut) modernst ausgestatteten grauen Bauten. Ein jedes Gebäude unterscheidet sich vom nächsten, aber nicht so sehr, dass man sich wirklich zurechtfinden könnte. Wenigstens ab und zu könnten sie die Hausnummer sichtbar anbringen! Juri fährt schimpfend um Ecken, während Kopp auf dem Beifahrersitz den Touristen darstellt, mit Interesse im Gesicht und Ferne im Herzen. Juri schreit mittlerweile ins Telefon, er schreit Halldor an, wo zum Henker usw., er habe nicht ewig Zeit usw. Vielleicht hat er wirklich einen Termin irgendwo. Halldor kommt bis an die Eingangstür, Kopp wird ihm gegen Quittung übergeben, Juri mit quietschenden Reifen davon. Komm, sagt Halldor, dessen Haare ihm mittlerweile bis zur Taille reichen — (Preisfrage: entspricht ihr Aussehen noch dem eines Wissenschaftlers oder bereits dem eines Sandlers? Karikatur über Halldors Schreibtisch, ein Geschenk der Kollegen) — komm, sagt er, ich stell dich dem Chef vor.
Der Chef ist Türke, Can Irgendwer, ein neuer Besen, der gut kehrt, empfängt einen jeden, als wäre man ein Journalist, lässt es sich nicht nehmen, das gesamte Institut vorzustellen, inklusive des Gebäudes, in dem es untergebracht ist, ein Gebäude, das ohne Klimaanlage auskommt, der Name des Architekten ist Soundso, schauen Sie, da bewegt sich gerade ein Rollo, nicht wie von Zauberhand, sondern gesteuert von Sensoren, und das hier ist die Schlafstube von Herrn Rose, hahaha, ihn lassen wir auch gleich mal hier, das da wäre übrigens Ihr Computerarbeitsplatz. (Tisch. Gesicht zur Wand, Rücken zum Raum, immerhin Fenster, seitlich.) Der Job ist natürlich zeitlich begrenzt, schlecht bezahlt und — wie an Darius Kopps fachlicher Vita abzulesen ist — fachlich unterfordernd, aber Kopp sagt, das mache ihm nichts aus. Ich bin nach einer Pause gerade dabei, mich neu zu orientieren.
Was er in der genannten» Pause «gemacht habe?
Eine Weltreise, sagte Darius Kopp, ohne mit der Wimper zu zucken. (Das ist gar nicht so ein großer Mist. Ich kannte einen, der schaute jede Woche nach, was sich auf der Robinson-Insel getan hat. Heute gab es auf Màs a Tierra einen Sturm, die Juan-Fernandez-Kolibris duckten sich unter die Blätter des Riesenlöwenzahns usw. Aber bei Bedarf könnte ich auch aus dem Stegreif lügen, nicht umsonst war ich lange Zeit Verkäufer und habe unzählige Reisereportagen gesehen.)
Sie plauderten noch einige Minuten, dann reichte Herr Chefdesinstituts Darius Kopp die Hand, sah ihm in die Augen und gab ihm das Versprechen, dass er bald von ihnen hören werde, und Darius Kopp wurde schlagartig klar: das Herumführen galt keineswegs einem, den man praktisch schon als Teil des Teams betrachtete, nein, es war nur ein Spiel, der Typ spielt gerne, er kann Halldor nicht leiden und Halldor kann ihn nicht leiden, soviel ist klar (»Schlafstube. «Fick dich, sagte Halldors Lächeln), aber das ist auch schon alles, was an Klarheit da ist. Im Grunde habe ich keine Ahnung, was ich gerade gemacht habe. Roboterhaft heruntergebetet, was ich alles kann oder mal konnte, und zwar, das kommt Kopp jetzt wieder, leider mit nicht wenigen Seufzern gespickt, die man als gelangweilt, genervt oder resigniert interpretieren konnte. Ich hätte aufmerksamer sein und das unterdrücken sollen. Angeblich spreche ich neuerdings ständig so: Seufzer, Halbsatz, Seufzer, dann der Rest des Satzes, er fällt mir aus dem Mund, anstatt dass er irgendwohin gesprochen wäre, vorzugsweise nach vorne, dorthin, wo ein erwartungsvoller oder nicht erwartungsvoller, also umso mehr herzuholender Zuhörer sitzt, und am Ende noch ein Seufzer.
Es hat mich sehr gefreut, sagte Darius Kopp, denn was sollte er jetzt noch sagen, und spiegelte das Strahlen seines Gegenübers. Während er innerlich schon wieder vollkommen erloschen war.
Offenbar ist es das, was ich im Moment kann: entweder während eines Bewerbungsgesprächs seufzend die lichtsensorischen Rollos betrachten oder aber von null auf hundert wütend werden.
Ein weiteres Gefühl kam beim Anblick der noch geschlossenen Kantine auf dem Wissenschaftsgelände dazu: die schambehaftete Sehnsucht der Zukurzgekommenen. Heimelige rote Kunstlederstühle, da zu sitzen würde mir jetzt und generell guttun, warum habt ihr noch geschlossen, ihr faulen Säcke, und was ist mit Frühstück für die, die die Nacht hier verbracht haben, weil sie einen Job haben, ein Vorhaben, das sie fasziniert, oder denen großer Druck gemacht wird oder die kein anderes Zuhause haben, mein Gott, Halldor hat kaum ein Wort gesagt, er unterhält sich seit geraumer Zeit im Grunde nur mehr mit Hilfe von Gesten, und scheinbar merkt es keiner, war zwischendurch auch schon mal in der Klapse, sag nicht Klapse, ausgerechnet du. Zurückgehen, wollen wir nicht einen Kaffee trinken, irgendeine Quelle dafür gibt es doch überall — aber dann war er schon zu weit weg, die ganze Strecke wieder zurück? nein, das doch nicht, hier ist ja schon die S-Bahn.
Dass es möglich war, diese zu finden, indem man gedankenverloren den grünen Richtungsschildern folgte, war eine kleine Tröstung. Aber dann führten zwei hohe Treppen auf eine windige Plattform hinauf, und das Hochklettern bereitete ihm solche Mühe, dass er dachte, er käme möglicherweise niemals oben an. Schmerzen in den Beinen, veritable Schmerzen, eingerosteter Blechmann, und einen Fahrstuhl gibt es nicht, mit einem Rollstuhl dürfte ich bis Schöneweide rollen (Wut), und wer (noch mehr Wut) denkt sich nur solche Schönwetter-Bahnsteige aus, selbst wenn es windstill ist, zieht es, aber so, wie in einem Mund mit einem frisch gezogenen Zahn. Wann und wohin sind die Wartesäle verschwunden — Einmal im Auslandswartesaal sitzen. — und warum habe ich es nie in eine Lounge geschafft? Ich dachte, ich wäre Wunder was, dabei habe ich es noch nicht einmal in die Business-Lounge geschafft. Darius Kopp, Dipl.-Ing. (TU), steht auf einem Hochbahnsteig am Stadtrand, knirscht mit den Zähnen.