Am Pfingstsonntag fuhr er Mutter, Schwester, Nichte und Neffe besuchen. Das Maidkastell'sche Stadtzentrum war anlässlich der Feiertage zur Gänze von einem Rummel überdeckt, das übliche öde Brimborium, Bier und Goldbroiler bis hin zum Horizont, Festwagen mit Scheich- und Bauchtänzerinnendarstellern, Mittelalterdarstellern, Nonnen- und Priesterdarstellern, eine himmelblau gekleidete Blaskapelle, eine aufblasbare Titanic, im Sinken begriffen, die als Rutsch- und Hüpfburg diente, selbstverständlich Trampoline sowie ein Riesenrad. Jeder spielte seine eigene Musik, das war schrecklich und gut zugleich, so musste Kopp nur ab und zu etwas davon hören, was Marlene faselte — warum sie Tommy verlassen habe: weil er zu wenig Ehrgeiz besitzt — oder Merlin quengelte, Lore sagte dafür kein Wort und machte sich irgendwann aus dem Staub. Deine Tochter ist verschwunden, sagte Kopp zu seiner Schwester. Diese zuckte die Achseln, woraufhin Darius Kopp seinerseits das Weite suchte, bevor er womöglich handgreiflich geworden wäre. Bevor ich der dummen Nuss eine schallende Ohrfeige… Du musst dich zusammenreißen. Sie verstehen nichts, nie verstehen sie etwas, blind und taub, als wären sie blind und taub, aber wenn du die Fassung verlierst, hast du endgültig verloren. Er riss sich zusammen, rempelte niemanden absichtlich, während er sich seinen Weg hinaus bahnte. Er umfuhr die Stadt, direkt in den Wald hinaus. Er hielt nur einmal an, um an einer Tankstelle eine rote Rose zu kaufen.
Am 23. Mai hatte Darius Kopp seine Frau seit fast 3 Monaten nicht mehr gesehen, und dort, in jenem sinnlosen Chaos, das sie untereinander Vergnügen nennen, wurde ihm klar, warum es ihm so ging, wie es ihm ging (schlecht), weil er nämlich dabei war, vor Sehnsucht zu krepieren. Die Rose, eine langstielige rote, sah erbärmlich aus, eine erbärmliche Tankstellenrose, aber dass es an Tankstellen überhaupt Rosen gibt, ist ein Zeichen: ich bin nicht der Einzige, der solche Wege geht.
Er näherte sich vorsichtig. Sie allein abpassen. Nicht weit vor dem Holzhaus gibt es eine kleine Einbuchtung im Gestrüpp, dort kann man stehen und zumindest in einen Teil des Gartens Einblick haben. Er hielt so lange still, bis es eindeutig war: es war keiner da. Er wartete noch eine Weile, ob sie von einem Spaziergang im Wald zurückkehrte. Eine oder mehrere Stunden im Auto zu warten, ohne einzuschlafen und sie so zu verpassen, ist eine nahezu unvorstellbar schwierige Aufgabe für jemanden wie Darius Kopp. Er spielte mit seinem Handy, bis die Batterie fast leer war, dann gab er auf. Er wendete und fuhr bis vor das Tor des Bauernhofes. Auch dort rührte sich nichts. Entweder war niemand dort oder sie versteckten sich absichtlich. Erneut die Wut, der Impuls, gegen das Tor zu treten. Auch das unterdrückte er. Wenn ich eine Chance haben will, darf ich hier nichts und niemanden mehr treten. Ihr Geburtstag war in 4 Tagen. Ich werde arbeiten müssen, aber ich rufe sie an.
Am Pfingstmontag regnete es Strippen, Kopp saß in der Berliner Wohnung und sah fern.
Am Dienstag war strahlender Sonnenschein und kalter Wind, er schnitt in die Ohren. Kopp war irgendwo in Bayern und drückte dankbar das immer ein wenig warme Telefon an sein Ohr.
Später legte er immer diese zwei Sachen übereinander: das Riesenrad im ohrenbetäubenden Lärm des Maidkastell'schen Rummels und die Stille in jenen zwei Stunden, die er im Auto im Wald saß, während sie wahrscheinlich schon tot war. Das Riesenrad dreht sich in leiernder Musik, die Liebe meines Lebens hängt im Wald von einem Baum, ich parke nicht weit davon und langweile mich. Das stell dir vor und halte es aus. Sie starb bei strahlendem Sonnenschein, hing einen Tag im Regen und einen halben im kalten Wind. Sie wurde vom Förster gefunden, drei Tage vor ihrem 38. Geburtstag.
In der schönsten Blüthe deiner Jahre. Meine Lebenskameradin. 10 Jahre, das sind nicht einmal ein Viertel meines Lebens, ich hatte ein Leben vor ihr, ein ganzes, halbes Leben hatte ich davor, aber, glauben Sie es oder nicht, ich kann mich an kaum etwas davon erinnern. Die 10 Jahre, die wir miteinander verbracht haben, scheinen mir jedoch wie 100 gewesen zu sein. Nicht, dass sie so langwierig erschienen wären. Nein, sondern ewig. Wir lebten wie die Könige. Zumindest anfangs. Im Jahr 2000 führten wir zwei voll ausgestattete Leben in einer ebensolchen Stadt in einer ebensolchen Ära, und ich kam mir, ich schäme mich nicht, das zuzugeben, unangreifbar vor. Auch wenn das eine Illusion war, auch wenn das für immer vorbei ist, freue ich mich, dass ich es wenigstens einmal erleben durfte. Sich unangreifbar fühlen, wann wäre das jemals gerechtfertigt, das Leben des Tiers besteht aus Flucht und Jagd, aber dass es je eine Zeit gab, so kurz sie auch gewesen sein mag, da ich das Gefühl haben konnte, die Zeit sei auf meiner Seite, hält mich bis heute aufrecht. Und dann traf ich auch noch sie. Mitte dreißig und das erste Mal wirklich verliebt — ich dachte, jetzt hast du es endgültig geschafft. Wenige Monate später fing die Welt an, den Bach hinunterzugehen. Ich habe dich beim Namen gerufen, jetzt gehörst du mir, Jesaja. Wer das persönlich nimmt, ist selber schuld. Ich nehme es nicht persönlich. Dass selten etwas Besseres nachkäme, diese Ansicht teile ich nicht. Zum Beispiel führte eine Häufung von Unglücksfällen überhaupt dazu, dass wir heirateten. Erst wurde sie von einem besoffenen Irren in einer nächtlichen Bushaltestelle überfallen, dann schleuderte Kopp das Platzen der NewEconomy-Blase ins All. Der Büroleiter kam aus seinem Büro und sagte, hört mal alle her, und entließ uns: alle. Das erste Jahr unserer Ehe gingen wir quasi Händchen haltend durch die Welt, im ständigen Geschrei der Angsthändler, aber wir hatten keine Angst, denn wir waren eine Einheit, zwei Rädchen, die ineinandergriffen. Obwohl wir im Grunde nie mehr in etwas anderem waren als in Krise, Zusammenbruch, Erholung, Zusammenbruch, Erholung, manchmal parallel zur Börse und manchmal nicht. Ich habe meine Jobs gezählt, ihre nicht, ihre sind ungezählt, aber sagen wir, es waren 10. 10 Jahre, 10 Jobs — nein, das geht nicht auf, es waren mindestens zwei pro Jahr. Also 20 Jobs, 20 körperlich schwere, geistig unter- und emotionell überfordernde Dienste, eine Fußsoldatin in der Armee der sogenannten Hilfskräfte, umsonst habe ich ihr gesagt, dass sie das nicht zu tun brauche. Du musst das nicht tun, du bist meine Frau. Da lächelte sie nur. Kuli kaaaann nicht tot. Dabei endete es immer mit einem körperlichen und seelischen Zusammenbruch. Sie rappelte sich jedes Mal wieder auf. Bis sie sich zuletzt nicht mehr aufrappelte. Sie hat aus diesem verdammten Wald nicht mehr herausgefunden. Gretel weigert sich, wieder nach Hause zu gehen, während Hänsel, dem Ofen entkommen, notfalls sogar einen Job in Bayern annimmt, und wenn es dich nicht reizt, mit mir dorthin zu ziehen, dann nehme ich sogar öde Wochenendfahrten auf mich, ich nehme selbst eine Wochenendehe auf mich, aber könntest du dann, bitte, wenigstens in unserer Wohnung auf mich warten?
Ich habe wirklich alles versucht, ich habe sie umworben, angefleht und angeschrien, sie blieb, was sie war: ein Nein. Aber warum? Darum. Es ist einfach so. Ich gehe nicht mehr in die Stadt zurück.
Ich nehme keinen Job mehr als Kellnerin, Bürohilfe oder Verkäuferin an. Nein, ich werde auch nicht mehr versuchen, als Übersetzerin zu arbeiten. Mir geht es hier gut.
Das hat uns letztlich den Garaus gemacht. Dass es keinen Ort zu geben schien, an dem wir beide hätten leben können. Doch wir sind auf immer nicht getrennt, Gott, der die Seinen alle kennt, wird wieder uns vereinen. Und sei es nach dem Leben. Wenn die Frau, die dich verlassen hat, sich umbringt, bist du mit einem Schlag wieder als ihr Ehemann eingesetzt. Schöne Leich, totes Mädchen, ob auf einer Bahre oder im Bett. Auch eine Leiche hat Persönlichkeitsrechte. Sogar Leichenteile. Eine Menschenhand hat das Recht, wie ein (toter) Mensch behandelt zu werden. Ein Mensch hat das Recht, beigesetzt zu werden.