Kopp schaut zum Haus hinüber. Drei Kinder sind mittlerweile auf den Hof herausgekommen. Zwei Jungen, ein Mädchen. Sie besteigen einen Hügel mit Bauschutt, um besser sehen zu können. In einer Tür erscheint eine schwangere junge Frau. Sie ist nicht schön. Kein schönes Mädchen am Ende der Welt. Sie geht wieder hinein. Hinter ihr steht eine ältere Frau, sie schaut ein wenig länger heraus zu uns.
Kopp stieg ein und ließ den Motor an. Die Beleuchtung schaltet sich automatisch ein. Im Lichtkegel Doiv, der für einen Moment so aussah, als wäre jetzt der Moment gekommen, da er genug hat von diesem Theater, dann bleibe ich eben allein hier, es wäre bestimmt nicht das erste Mal, dass man ihn irgendwo zurücklässt, aber dann sprang er doch zur Beifahrerseite: Wait!
Thank you! schrie Doiv beim Einsteigen übers Autodach hinweg den Bewohnern des Hauses mit der Nummer 13 zu und winkte mit großen Armbewegungen.
Die wenigen Meter bis zum Dorfende fuhr Kopp vorsichtig, keinen unsichtbaren Menschen und kein Tier umfahren, sobald sie wieder auf der Landstraße waren, drückte er auf die Tube. Die Straße war kurvig und nicht sehr breit, Kopp fuhr mehr links als rechts, egal. Doiv hielt sich am Haltegriff über der Tür fest und biss die Zähne zusammen.
Eine Stunde später waren sie wieder an der Küstenstraße und kurz darauf am Grenzübergang. Unendliche Reihen von Trucks, die Schlange mit den Personenkraftwagen war hingegen kurz. Dennoch verbrachten sie die nächsten 7 Stunden hier.
Aus irgendeinem Grund war man in dieser Nacht zu besonders genauen Kontrollen aufgelegt, starrte in ihre Pässe, ihre Gesichter, ihr Gepäck. Der Zöllner fasste alle Taschen an, fragte und fasste auch hinein. Fasste schließlich auch den Karton an.
Und was ist das?
Darius Kopp konnte es nicht sagen, er deutete an, der Zöllner möge selbst nachsehen.
Der Karton war mit Unmengen braunen Packbands zugekleistert, so, wie Kopp ihn bekommen hatte. Eine Adresse in Berlin, eine Adresse in Budapest.
Der Zöllner schaute drauf, sah die Namen der Orte oder auch nicht, rüttelte am Karton. Leises Rascheln, sonst nichts. Was ist drin?
Wie sagt man Asche auf Russisch? Moja schena, fiel Kopp ein, und bevor er es verhindern konnte, hatte er es ausgesprochen: Moja schena. Meine Frau.
Dass Doiv nichts versteht, ist klar, aber auch der Zöllner schaute mit leerem Blick. Mein Akzent ist bestimmt beträchtlich. Der Zöllner schaute eine Weile, dann deutete er an, Kopp möge ihm folgen. Doiv hatte keiner dazu aufgefordert, dennoch kam er mit. Dass man an Grenzen nicht fotografieren darf, löste sichtbare körperliche Reaktionen bei ihm aus. Seine Hände zitterten.
In der Baracke gab es eine Art Vorraum, in dem nur ein Tisch und ein Stuhl standen. Reise nach Jerusalem. Kopp und Doiv blieben stehen. Der Zöllner hielt den Karton unterm Arm, während er den Kopf in einen benachbarten Raum steckte und mit jemandem redete. Ein anderer Typ kam heraus, älter und untersetzter. Grüßte mit einem Kopfnicken. Die Zöllner redeten etwas untereinander.
Dann kam der Ältere zu Kopp, sagte und zeigte ihm, dass sie den Karton öffnen wollen. Kopp zuckte mit den Achseln und nickte. Durch das Fenster war eine Straßenlaterne zu sehen. Im Lichtkegel verdampfte die Kälte. Doiv zog die Nase hoch.
Zwei weitere Männer kamen, sie hatten Tarnanzüge an und einen Schäferhund dabei. Sie führten den Hund am Paket vorbei. Der Hund reagierte nicht. Setzte sich hin und leckte sich die Nase.
Die Zöllner holten einen zu kleinen Cutter, ratschten ewig am Packband herum, bis es endlich nachließ.
Iswinite, sagte Darius Kopp, als der Deckel aufging. Über und in seinem Körper waren Ameisenschwärme unterwegs. Verzeihen Sie.
Er deutete an, dass er ab nun selbst auspacken möchte. Sie zögerten, schauten sich an, einer zuckte mit den Achseln, dann traten sie einen Schritt zurück.
Auf den ersten Blick war im Karton nichts außer zerknülltem Zeitungspapier. Eine Lage und noch eine. Der Geruch davon. Das verschwimmende Licht der Lampen, die Kälte, der Geruch von zerknülltem Zeitungspapier. Kopp atmete tief ein. Suchst du den Geruch von Asche? Er holte schon die dritte Lage aus dem Karton und dachte für einen Moment: das war's. Da ist gar nichts weiter drin, sie haben dir den größten Bären der nördlichen Hemisphäre aufgebunden: kostenlose Werbezeitungen, zerknüllt, in einem Karton für 10 000 Euro. Und was wohl die georgischen Zöllner dazu sagen werden. Was tun georgische Zöllner, die sich verarscht fühlen? Der jüngere könnte mein Sohn sein. Da ertastete er doch noch etwas. Er schloss die Augen, während er es herauszog. Die Urne. Wie sieht sie aus? Wie ist der Vasengeschmack unseres Bestatters in Berlin? Nun: keine Ahnung. Keine Vase, keine Kaffeedose. Pappe. Ein zylindrischer Behälter aus Pappe kam zum Vorschein, ebenfalls mit Klebeband zugeklebt. Natürlich. Wie sollte sonst der Deckel halten. Man sagt, das sei gar nicht dein Mensch, nur irgendwelche Asche. Der junge Zöllner macht immer noch ein Gesicht wie einer, der nichts kapiert. Der Ältere schaut wie einer, der schon alles gesehen hat. Doiv macht solche Augen.
Sie rütteln daran. Sie hören es knistern. Doiv fängt zu grinsen an. Der ältere Zöllner schaut fragend zu Darius Kopp, ob sie auch den Klebestreifen von der Urne entfernen dürfen. Reine Höflichkeit. Sie werden es ohnehin tun. Der Hund sitzt friedlich da. Kopp nickte. Dabei sterbe ich. Nicht wirklich. Aber er schloss die Augen, während sie den Deckel abhoben und hineinsahen. Moja schena, moja schena, moja schena, dachte Darius Kopp. Moja schena. Wenn du recht gehabt hättest, wenn es das Richtige gewesen wäre, dann wären wir jetzt nicht hier. Das ist die Wahrheit. Sie rascheln, sie rutschen mit ihren Füßen auf dem Linoleum hin und her, am Halsband des Hundes klimpert Metall und Doiv flüstert in Kopps Ohr: I should have warned you. You must not carry mind-altering substances across the boarder.
Woraufhin Darius Kopp mit geschlossenen Augen zu lachen anfing. Danke. Danke für diesen Satz, denn mit einem Mal ist meine Angst verflogen. Ich habe getan, was ich konnte, Liebste. Dafür hat es gereicht. In feuchter Kälte zur halben Nacht an einem Grenzübergang. Er öffnete die Augen. Sie waren allein im Raum mit dem Tischchen und dem einen Stuhl.
Sie ließen sie mehrere Stunden ohne eine Nachricht warten.
Irgendwann setzte sich Kopp auf den Stuhl, und Doiv sah beim Fenster hinaus.
Als es wieder hell zu werden begann, kamen sie wieder. Die Tarnanzüge stellten sich wieder dorthin, wo sie zuvor gestanden hatten, vor der Wand, in der Nähe der Tür, der jüngere Zöllner einen Schritt vor ihnen, der ältere Zöllner kam zu Kopp.
400 Dollar, sagte er.
Für jeden einen 100er. Ein fairer Preis. Ich bin einverstanden. Endlich kommen die Dinge in geordnete Bahnen. Das einzige Problem ist, dass ich keine 400 Dollar habe. Ich habe gar keine Dollar. Türkische Lira, Bulgarische Lew, albanische Lek, einpaar Euros. Lew und Lek brauchst du nicht zu versuchen. Die Türkei ist nah.
One moment, sagte Darius Kopp und zeigte die Eins auch mit dem rechten Zeigefinger.
Der Zöllner nickte und ging einen Schritt zurück. Jetzt standen 4 vor der Tür. Vor der Tür zu ihrem Büro stand keiner. Eine Variante, die sie nicht bedacht haben. Die Asche ist irgendwo da drin. Steht auf einem Schreibtisch.
Wie viel Bargeld hast du dabei, fragte Darius Kopp Dave Deacon.
Doiv wusste es nicht aus dem Kopf, sie mussten mit den Tarnanzügen und dem Hund zum Auto, damit er in seiner Jacke nachschauen konnte.
70 Pfund und 25 Türkische Lira.
Kopp hatte 125 Türkische Lira, 110 Euro und einpaar Münzen. Er beschloss, zwei Zwanziger behalten zu müssen. Also 70 Euro.
Macht 286 Dollar. Für jeden rund 70. 70 ist nicht viel weniger als 100. 40 Bulgarische Lew sind immerhin auch 25 Dollar.