Adessa ist fertig mit Essen, steht auf.
Wieso gehst du schon?
Ich bin müde.
Der Alte sagt etwas auf Georgisch.
Sie antwortet, höflich, damit's alle verstehen, auf Deutsch: ich kann es morgen machen.
Der Alte murmelt. Dass sie nicht bleiben will, obwohl man doch einen Gast hat, und noch dazu aus dem Land, in dem sie geboren wurde, hat ihm etwas die Laune verdorben. Er holt hinter dem Kühlschrank eine Schnapsflasche hervor.
Du musst ihn kosten. Nur ein bisschen. Ich darf nicht betrunken sein, wenn ich morgen beim Bau helfe. Ist nur Familie, trotzdem. Ich bin das schwarze Schaf, weißt du.
…
Ich verrate dir mal ein Geheimnis. Sie hatte 7 Jahre lang einen Verlobten. Was muss man 7 Jahre verlobt sein? Na, das Ende war dann auch, dass sie nicht geheiratet haben. Da war sie 30. Jetzt ist sie 35. Mein Sohn ist auch schon 29. Mit 35 findest du in Georgien keinen Mann mehr. Höchstens einen Witwer mit Kindern. Ich weiß, wie so was ist. Ich war selbst ein Witwer mit Kindern. Hast du Kinder? Nein? Soll ich dir die Wahrheit sagen? Meine Frau wurde gar nicht vom Bus totgefahren, sondern meine Freundin. Die Frau, mit der ich gelebt habe, nachdem ich Witwer geworden bin. Das ist ihr Foto. Das war eine nette Frau. Ich verrate dir mal ein Geheimnis. Meine erste Ehe war nicht gut. Sie ist schon lange tot. Hat zuviel Medikamente durcheinander genommen. Dabei war mein Sohn erst 10 Jahre alt. Sie war leider keine besondere Leuchte. Ich dachte erst, das macht nichts, aber auf die Dauer macht es doch was. Denn, sagte er und hob komisch den Zeigefinger, er war längst betrunken, dass sie dumm sind, hindert sie nicht daran, einen eigenen Willen zu haben. Leider.
So gerätst du unvermittelt in die Mitte der Familie eines anderen. Ein Dutzend Intimitäten gleich am ersten Abend.
Gero Szulczewskis Frau hieß Elisabeth, seine Schwiegermutter auch, Lissy und Liz, sie wohnten zusammen in einem riesigen Haus, das aber, das Gegenteil von hier, überall gepolstert, warm und duftig war, scheinbar jemandes Hobby, in jedem Raum ein anderer Duft. Sie besorgten ihm Arbeitshelm, Arbeitsschuhe und Unterwäsche und quartierten ihn im Gästezimmer von Geros Schwiegereltern ein, im Keller, neben dem Heizkessel, der Sauna und einem Raum voller säuberlich in Regale gestapelten Äpfel. Das winzige Fenster des Zimmers ließ sich nicht öffnen und nicht kippen, Kopp war, als wäre nicht genug Luft da, die Heizung zieht sie ab, aber sie sind so herzlich, und du so müde. Heute Morgen war ich doch noch… Iss Äpfel, sagte Geros Schwiegervater schon halb aus dem Delirium, sein Name war Klaus, Nachname Gutzer, iss Äpfel, es sind genug da.
Sie nehmen dich auf wie einen heimkehrenden Sohn, am Abendessenstisch sind weder Kartoffeln noch Fleisch abgezählt, und die Gespräche sind offen, wie mancherorts nicht einmal zwischen richtigen Familienmitgliedern. Dass Gero und Lissy, einzeln und in der Kombination, keine Kinder bekommen können, wie lange sie es schon versuchen — Sieht nicht besonders gut aus, sagte die Ärztin, nachdem sie einen Blick auf die sich seit einem Tag teilenden Zellen geworfen hatte — dass sie sich für eine Adoption haben registrieren lassen, das ist jetzt 9 Monate her, gerade 9 Monate. Dass es bei Liz und Klaus auch 8 Jahre gedauert hat, bevor sie ihre Zwillingstöchter bekamen, Lissy ist ein Zwilling, aber zweieiig etc. etc. Im Austausch musst du auch offen erscheinen, deine Familienverhältnisse reportieren: Vater und Mutter nach der Wende geschieden, Schwester ledige Mutter, Frau Ungarin, sie kommt
Im Kalten Palast am Rande von Tiflis gab es wiederum genug davon. Von irgendwoher zog es mächtig, aber so, als käme es aus den Tiefen des Alls, an die Wand neben dem Bett war als Linderung gegen die Kälte ein Teppich gehängt, darauf Sterne, schematische Sterne in immer gleicher Entfernung, 12 in den waagerechten Reihen, 6 in den senkrechten, wenn du sie anfasst, fühlen sie sich wie angeschmolzene Eiswürfel an. Kopp rieb die Fingerkuppen aneinander, um zu sehen, ob sie nicht wirklich nass geworden waren. Nein. Die Vorstellung, wie es wäre, mit Doiv hier zu sein. Und wie es wäre, mit Flora hier zu sein. Erklär mich für verrückt, aber auch diese junge Frau hier, diese Tochter, erinnert mich irgendwie an dich. Er dachte eine Weile nach, was genau ähnlich an ihr war. Das Lächeln. Die Lippen sind ganz anders, voller, dunkler. Aber wie sie lächelt. Wie eine mit einem Geheimnis.
Daran zu denken war nun nicht gut. Die Geheimnisse der Frauen. Nicht gut. Kummer und am Ende: Trauer. (Könnte es nicht auch mal anders sein? Doch. Und ich würde es mir auch gerne vorstellen.)
Durch die Decke hörte er Geräusche aus dem Zimmer in der Etage über ihm. Musik aus einem Radio und Schritte. Was macht sie da? Tanzen? Sich das vorzustellen half endlich: er schlief ein.
Es war nicht die Tochter, sondern der Sohn, der sein Zimmer über dem von Darius Kopp hatte und in der Nacht aufgestanden war, um sich für den Job fertig zu machen. Sie begegneten einander nach seiner Rückkehr am Frühstückstisch, den der Alte gedeckt hatte wie in einer Pension. Schau, ich kann auch Serviettenschwäne, ich sag ja, ich war Koch. Und das ist mein Sohn. Ist er nicht ein hübscher Junge? Musst du sein, als Fahrer. Immer gepflegt. Rasierwasser, Haarschnitt. Und trotzdem ist er nicht verheiratet. Sag mir, was habe ich falsch gemacht? Keins meiner Kinder ist verheiratet. Mit 29 findest du doch nur noch eine mit Kind. Oder eine Studierte. Willst du das?
Der Alte lacht und zwinkert, der Junge frühstückt stoisch. Familie ist, alles tausendmal zu hören. Dennoch, als wäre der Gesichtsausdruck eher traurig als nur gelangweilt. Oder er ist einfach müde. Er isst auf, erhebt sich, sagt höflich, auf Deutsch, er ginge jetzt zur Baustelle.
Aber wo ist Adessa?
Das wusste der Junge nicht.
Bestimmt wieder in der Kirche. Was ist heut für ein Tag? Rennt ständig in die Kirche. Wie eine Nonne. Ist ihre Privatsache. Aber soll ich mich freuen, wenn meine Tochter Nonne wird? Was soll ein Vater denken, dessen Tochter Nonne wird? Möchtest du, dass deine Tochter Nonne wird? Usw.
Also gut, begleitete der Alte eben Darius Kopp zur Werkstatt — Da, siehst du, dein Auto steht noch da — und man besprach wieder, dass der Automechaniker und der ehemalige Koch leibliche Brüder sind und dass alles in Ordnung kommen wird. Man braucht ein Ersatzteil, das natürlich erst bestellt werden muss, aber soviel Zeit muss sein, du hast ja noch gar nichts gesehen und die Berge rennen nicht weg. Das ist das Gute an ihnen. In der Zwischenzeit werden wir dafür sorgen, dass du alles zu sehen bekommst und jeden kennenlernst. Giorgi, den Drachentöter, kennst du ja schon. Und schau, nur eine Straße weiter, wo gerade ein Dachgeschoss ausgebaut wird, sind meine anderen beiden Brüder. Könige und Krieger auch sie: Demetre, der Kleine — der überhaupt nicht klein, sondern geradezu riesig ist — und Temur und sein Trupp. Weißt du, wer die waren? Wenn nicht, erfährst du es jetzt, Heldenerzählungen, aber tatsächlich kannte Kopp Timur und seinen Trupp und wurde dafür gefeiert, als wäre das eine Leistung. Das waren noch Zeiten, was?