Klammheimlich, über Nacht, wadenhoch. Bis zum Wochenende lag er schon hüfthoch. Unmöglich, sich innerhalb eines Wochenendes auf dem Landweg vom äußersten Süden bis nach Berlin und zurück durchzuschlagen. Kopp nahm ein überteuertes Flugzeug und anschließend ein günstiges Mietauto, klein, leicht, unbekannt. In der Stadt ging es damit einigermaßen (schmerzendes Heimweh in winterschmuddligem Stop-and-go), auf dem kurzen Stück Autobahn auch. Sobald er auf die Landstraße hinunterfuhr, wurde es mit jedem Meter schwieriger. Es schneite gerade nicht, aber die Straßen wurden immer enger, bis nur mehr dünne Rinnen übrig blieben, mit krustigen Rändern bis hoch an die Seitenscheiben. Geschneit, beiseitegeschoben, festgefroren, drübergeschneit. Ab und zu Löcher in der Schneewand: eine Toreinfahrt oder eine noch engere Seitenstraße. Einmal kam ein Weg, der sah etwas freier aus, aber so etwas darf man nicht tun, in so einer Situation, mit einem unbekannten Wagen einen unbekannten Weg fahren. Darius Kopp weiß das wie jeder andere auch, aber da der Weg auf dem Bildschirm des Navigationsgeräts gut zu sehen war, bog er ein. Die ersten 50 Meter war auch alles in Ordnung, da standen einpaar Bäume, doch nach einer Kurve entpuppten sie sich als Wald, und dann fing auch schon der Schnee an, am Unterboden des Autos zu schleifen. Eine Sekunde später strich er auch an den Seitenspiegeln entlang, und da war es sowieso schon zu spät. Links und rechts eine mannshohe Schneewand und dahinter der Wald, das hast du prima ausgesucht, halte dich ja gerade, noch 3 Kilometer, der Schnee kratzt am Unterboden und an den Seitenspiegeln, noch 2,5, was, wenn einer entgegenkommt und man rückwärtsfahren muss, unmöglich, da stehen wir dann und starren uns an, zwei Bären auf einem Baumstamm über einem Abgrund, noch 2 Kilometer. Als es weniger als 1 km war, dachte Kopp, während das Adrenalin säuerlich in seinen Adern pumpte, den Rest könnte man notfalls auch laufen.
Er war näher am Holzhaus als am Bauernhof, also sah er zuerst dort nach. Alles eingeschneit. Nicht einmal zum Haus des alten Ehepaars, das sonst immer hier wohnte, führten noch Spuren. Der Zipfel eines blauen Müllsacks ragte aus einem Schneehaufen. Plötzlich Sorge, nicht nur um Flora, sondern auch um die Alten. Die Vorstellung: wie in den eingeschneiten Sommerhäusern ringsum lauter erfrorene Leute liegen, in geliehenen Klamotten, weil sie es einfach nicht mehr aus dem Wald heraus geschafft haben. (Funktioniert es so? Das, was für den einen einfach ein verschneiter Wald ist, ist für den anderen der vorgestellte, also reale Horror? — Genau so.) Er konnte nicht anders, er musste nah ans Haus heran. Das Gartentor war abgeschlossen, das Vorhängeschloss mit Eis bedeckt, aber was, wenn sie es vorher und von innen geschlossen hat? Kopp kletterte über den wackeligen (feuchten, moosigen, in Schnee eingesunkenen) Holzzaun, brach bis zu den Knien im Schnee ein, stapfte, mit jedem Schritt nasser werdend, bis zur Hütte. Auch diese war abgeschlossen, die Fenster mit Vorhängen verhängt. Er rief leise: Flora? Darius Kopp im verschneiten Wald, leise Flora rufend, während die Äste knackten.
Hier nun gab es kaum Bäume, schau, Flora, das nennt man eine Hochsteppenlandschaft: einpaar Wegbäume und dahinter nur noch das ergebene Gras und die Steine und einmal eine Handvoll Schafe um einen Mast versammelt, das Hinterteil gegen den Wind gedreht, die Köpfe zur Mitte, jeder im Atem des anderen. Weder Menschen noch Fahrzeuge, aber solange alle Nase lang erleuchtete Tankstellen und Vulkanisierungswerkstätten am Wegesrand auftauchen, brauchst du dich nicht weiter zu sorgen. Der ausgeschilderte Erdrutsch ist auch schon älter, die Umfahrungsempfehlung unmissverständlich, auch wenn es nur kyrillische und armenische Buchstaben dazu gibt. Ein wenig fühle ich mich wie auf einer Zeitreise. Kyrillische Aufschriften, graubraune, graugelbe, graurosane Tuffsteinbauten, ein Mara3NH- ein MapKeT-
Solange sie noch bestand, habe ich es nie in die Sowjetunion geschafft, dennoch ist mir, als würde ich das alles kennen. Nicht wirklich gut, aber ein wenig. Schau, ein Neubaublock mitten im Nichts. Ich würde es in Kauf nehmen, dass die Zeit bis zurück in den Sozialismus gedreht wird, wenn du dafür noch am Leben wärst. Wäre das nicht ein Deal? Hm? (Mein Herz klopft, als wäre es möglich.)
Mehr noch. Ich wäre bereit, mein gesamtes Leben im Sozialismus zu verbringen, wenn du nur am Leben wärst. Nichts.
Ich habe immer noch nicht herausgefunden, nach welchem Prinzip du erscheinst. Was mich anbelangt, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt. Aber nein.
Kannst du kyrillisch lesen, Oda? Weißt du, wie dieser See heißt, Oda?
Was soll's, ich weiß es selber, es steht ja dran. Schau, Flora, da ist der größte Süßwassersee des Kaukasus. Im Schneeregen. Ein riesiger Fisch hängt vom Vordach einer aus Wellblech und Plastik zusammengezimmerten Bude. Er hängt da so schwer herunter, dass man denken könnte, er wäre echt. Niemals. Wer würde einen echten Fisch von so einer Größe im Sturm hängen lassen? Der Fischer, der kein Radio und kein Handy hat und überrascht worden ist und der nun in der Hütte hockt und versucht, nicht zu erfrieren?
Die panischen Bilder von einer erfrorenen Flora — wenn nicht in der Hütte, dann irgendwo in diesen endlosen Wäldern — gab er erst auf, als er sie endlich sah. Natürlich auf dem Hof. Als Kopp ankam, schippte sie gerade Schnee, diesmal zusammen mit einem jungen Kerl, den Kopp hier noch nie gesehen hatte. Ein Dennis. Er hatte einen Drogenflashback oder einen schizophrenen Schub, das bringe ich nicht mehr zusammen. Irgendjemand war der Meinung gewesen, so ein Bauernhof würde ihm guttun. Flora arbeitete wie immer, kraftvoll und ausdauernd, der Junge mit vielen Pausen. Er war so schwächlich, er röchelte förmlich vor Anstrengung.
Kann ich helfen? fragte Kopp.
Der Junge hatte Mord in den Augen. (Kennen wir uns etwa schon so gut?) Flora war so freundlich und fröhlich wie zu ihren besten Zeiten, aber auch sie brauchte seine Hilfe nicht, im Gegenteiclass="underline" Ich liebe es, Schnee zu schippen.
Ich war am Haus. Ich war in großer Sorge.
Musst du nicht.
Das sehe ich.
Der Junge stand kurz davor, sich umzubringen, nur um sich in Kopps Gegenwart keine Blöße zu geben. Komm, sagte Flora zu Kopp, als sie sah, was los war. Holz muss auch noch gemacht werden.
Der nächste Fisch war aus Neon, er leuchtete blau neben einer roten PecTopaH-Aufschrift. Auf dem Parkplatz vor dem Restaurant standen vier Autos, ein Umstand, der Vertrauen einflößt, zudem hatte Kopp sowohl Hunger als auch Durst, aber das Restaurant war auf der anderen Straßenseite, hinter dem erhöhten Teilungsstreifen, und bis eine Stelle kam, an der man hätte wenden können, hatte er es schon wieder vergessen. Am Seeufer nun ein leeres Sommerbad. Der Alte König sagte, der See werde türkis sein, aber er ist grau, die Hügel dahinter bräunlich, nur das Rot der Coca-ColaZelte am Strand leuchtet fröhlich. Danke. Ein schönes Rot, und etwas, das ich kenne. Und schau, dort, auf einer Landzunge, im Schneeregen, eine Kirche. Später stand ein altes Betondenkmal im niedergedrückten hohen Gras, schwer zu sagen, was es genau darstellte, am ehesten war es dem Heckflügel eines Flugzeugs ähnlich oder einer Rampe. Eine Rampe in den Himmel, in die Zukunft, wie es in der Vergangenheit Mode war. Später kam ein Dorf, in dem die einzige Farbe ein orangefarbener Orange-Werbekubus war. Später eine Siedlung ausschließlich aus Containern, weiße und mintgrüne.
Irgendwann der Zweifel, ob er sich vielleicht verfahren hatte. Und ewig kommt kein Wegweiser mehr. Mittlerweile schneite es aus allen Rohren, dazu war es dunkel geworden. Lange Zeit fuhr Kopp, ohne auf etwas zu stoßen, das auf die Anwesenheit von Menschen auf diesem Planeten hingedeutet hätte. Abgesehen, natürlich, von der asphaltierten Straße selbst. Noch ist sie zu sehen. Rechts rauschte ein Fluss, so laut, dass man es sogar bei geschlossenen Fenstern hörte, aber die Karte im Navigationsgerät zeigte keinen an. Die Sicht war jetzt so schlecht, dass Kopp es mit der Angst bekam. Fahre ich noch in einem Tal oder bereits auf einem Staudamm, auf der schmalen Straße obendrauf, endet sie plötzlich an einem Schlagbaum, werde ich anhalten können, bevor ich in den Stausee stürze?