Ich nickte. »Wir müssen erfahren, wann sie anfangen wollen.«
»Ich werde Sie wissen lassen, was wir in Erfahrung bringen.«
Als ich nach Hause kam, wartete Nathan schon auf mich. »Herrje, George, du mußt wirklich ein toller Mittelsmann sein. Ich sprach mit diesem Beamten im Ministerium, mit dem du den Termin gemacht hast, und ich will verdammt sein, wenn er mir nicht bestätigt hat, daß das Projekt gebilligt ist!«
»Ich hatte nichts damit zu tun«, sagte ich. »Hat er gesagt, wann sie anfangen werden?«
»Nein, wieso? Es ist noch viel zu tun, es müssen Angebote eingeholt werden und …«
»Das ist alles schon geschehen«, entgegnete ich verdrossen und gab ihm eine Zusammenfassung dessen, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Er war schockiert.
Ein paar Tage später rief mich Bahadim an. Seine Lauscher hatten erfahren, daß die Aushubarbeiten für die Kanalisation bald beginnen würden. Die Vertragsfirma hatte einen schweizerischen Techniker eingestellt, was bedeutete, daß alles dreimal so schnell gehen würde wie sonst.
Also wurde es höchste Eisenbahn für uns. Freds brach nach Shambhala auf, und Colonel John und die Khampas für die Änderungen an ihrem Tunnelsystem unter der Stadt zu holen. Es würde eine Weile dauern, bis sie in Katmandu waren und anfangen konnten; mittlerweile gab es für mich kaum etwas zu tun. Ich überprüfte das Tunnelsystem noch einmal, stellte genau fest, wo die Rohre der Kanalisation es schneiden würden, und markierte die Stellen im Tunnelsystem, die aufgefüllt werden mußten; ich lag stundenlang unter A. Ranas Fußboden, belauschte ihn, wie er über mir das Blaue vom Himmel log, und wurde immer wütender auf ihn; ich räumte sogar mein Zimmer auf, was ich seit Monaten nicht mehr getan hatte.
Und während ich dort aufräumte, stieß ich auf eine kleine Tasche mit unnützem Kram von meinem ersten Trek in Nepal. Man hatte mich damals eingestellt, die Trekker zu führen, obwohl ich nicht die geringste Ahnung gehabt hatte, worum es überhaupt ging; unser Sherpa-Sirdar hatte mir alles beigebracht. Unter den Erinnerungsstücken in der Tasche befand sich ein zusammengefalteter, an den Ecken zerfranster Zettel. Ich erinnerte mich nicht mehr, worum es sich dabei handelte, und faltete ihn neugierig auf.
Es war ein Brief, in einer seltsam spitzen Handschrift, die ich kaum lesen konnte.
Datum. 27. 9. 1981
Sehr geehrter Herr,
Namaste.
Heute ich Ihnen einen Brief schreiben und ich hoffen und gesehen Sie wohnen auf Schulhof so ich sehr Glück sein für Sie und Ihre Führer. Ich Ihnen sagen müssen von dieser Grundschule schlechte Bedingungen verzeihen Sie Sir hier nicht sehr ferantwortliche Person und reicher Mann so daß sie nicht geben können viel Geld für Schule. In meiner Schule hier nicht genug Bänke geben daß Schüler sitzen können und ich hoffe Sie helfen dieser Grundschule mit Geld. Wenn Sie haben Geld aber ich sehr betrübt bin diesen Brief zu schreiben an Sie. Sir ich habe zu viel Problem in Schule. Was kann ich tun? weil ich bin auch sehr armer Lehrer in diesem Dorf. Jetzt ich muß schließen.
Ihr vertrauenswürdiger Lehrer
Ich saß mit dem Brief auf dem Knie auf meinem Bett, und allmählich fiel es mir wieder ein. Wir hatten spät am Abend ein Teehaus und eine Schule erreicht, die auf einem steilen Felsvorsprung neben dem Trail kauerten. Ja, genau, Sangbadansda! Es hatte an diesem Tag heftig geregnet, und unsere Gruppe war erschöpft, die Hälfte von ihnen war schon krank, und so hatten wir den nächsten Tag dort verbracht, um wieder trocken zu werden und uns zu erholen. Als ich dort in der Morgensonne saß, war ein junger Bursche von der Schule zu mir gekommen und hatte mir den Zettel mit einem Lächeln in die Hand gedrückt. Nachdem ich den Brief gelesen hatte, hatte ich dem jungen Mann ein paar Rupien gegeben, und sie hatten mich in die Schule eingeladen, um mit dem Schulvorsteher und allen Lehrern zu sprechen. Der Schulvorsteher war ein alter, im Ruhestand lebender Gurkha, der die Schule mit seiner Pension finanzierte. Wie wir an diesem Morgen festgestellt hatten, drillte er die Kinder wie Soldaten in einem Ausbildungslager. Seine Lehrer waren junge Burschen, die allesamt kaum Englisch sprachen, und sie freuten sich, mit mir über Amerika und amerikanische Schulen sprechen zu können, und über ihre eigene Schule. Sie hatten keine Bücher; sie bildeten die Kinder an Tafeln aus. Nach dem Gespräch hatte ich einen meiner Klienten angeschrien, weil er an die Rückwand des Schulgebäudes gepinkelt hatte. Aber hier liegt doch überall Scheiße, hatte er protestiert.
Ich faltete den Zettel langsam zusammen und steckte ihn wieder in die Tasche. Und als ich über die Straßen und durch die Tunnels zu Bahadims unterirdischem Hauptquartier ging, dachte ich immer noch über diesen Schulvorsteher und seine Schule nach.
Bahadim gesellte sich im Lauschposten unter A. Ranas Büro zu mir, und wir lagen dort in der Dunkelheit, während A.S.J.B.R. nur Zentimeter über unseren Köpfen arbeitete. Während einer seiner unvermeidbaren Telefongespräche ergriff Bahadim meine Hand und drückte sie. »Er spricht mit einem Freund in der Armee«, flüsterte Bahadim in mein Ohr. »Sie verkaufen die Hörner von Nashörnern an Mitglieder einer chinesischen Handelsgruppe. Sie wildern bestimmt in Chitwan!«
Ich lag da und hielt mich zurück, gegen A. Ranas Fußboden zu treten. Dieser schleimige Hurensohn, der in einem Land ohne Schulbücher Schmiergelder einstrich, der in einem Land wilderte, in dem kaum noch Nashörner übriggeblieben waren — der mich nicht einmal erkannt hatte! Ich wollte schreien, ich wollte ihn umbringen; dann würde er sich an mich erinnern! Ich mußte einfach so fest gegen den Fußboden treten, daß er vor Schreck sterben würde! Ich konnte mich kaum davon abhalten. Das war das erste offensichtliche Zeichen, daß ich den Verstand verlor.
14
Nach diesem Warnzeichen hatte ich häufiger mit dem Problem zu kämpfen. In der Tat verschwimmen die folgenden Wochen in meiner Erinnerung. Ich lief durch die Straßen der Stadt und .die Tunnels unter ihr, versuchte mit unzureichenden Mitteln und oftmals im Geheimen die Stellen der Tunnels zu ermitteln, die aufgefüllt werden mußten, und entwarf dabei immer neue Pläne, Szenarios, die ich bis ins letzte Detail ausarbeitete (abgesehen von gewissen kritischen Augenblicken). Ich brütete ständig über diesem Pläne und fuhr nervös zusammen, wenn mich jemand fragte, worüber ich denn so angestrengt nachdachte. »Nichts! Nichts! Geht wieder an die Arbeit!« schrie ich dann immer, und wir machten weiter. Die Khampas trafen ein, geführt von Colonel John, und machten genug Lärm, daß man sie oben auf den Straßen hören könnte, liefe das Leben da oben nicht ständig mit hundert Dezibel ab. Sie brachten eine ganze Reihe von kleinen Loren mit, von einer Größe, die den Sieben Zwergen genau recht gewesen wären; sie gehörten in den Fernreise-Tunnels, durch die sie nach Katmandu gekommen waren, anscheinend zur Standardausrüstung. Diese Loren fuhren, wie Freds mir sagte, auf den Fernreisetunnels auf fest angebrachten Eisenschienen, und es sei kein Problem, im Bedarfsfall auch unter der Stadt solche Schienen zu verlegen.
Also liefen wir alle in den Tunnels hin und her, gruben mit Hacken, schaufelten Erde in die Loren und torkelten durch die Dunkelheit, während wir sie auf den neuen Gleisen hin und her schoben. Über uns hatten die Aushubarbeiten für die Kanalisation bereits begonnen, und sie würden in ein paar Tagen auf den ersten der alten Tunnels stoßen. Sie sperrten Nebenstraßen ab und buddelten sie mit indischen Maschinen auf, und da der schweizerische Ingenieur jeden Tag auf der Szene erschien, in die Löcher kletterte, das Arbeitsgerät überprüfte und die Arbeiter auf schlechtem Nepalesisch antrieb, machten sie bemerkenswert gute Fortschritte. Darunter hatten wir immer mehr zu tun und immer weniger Leute und Gerät, um die Arbeit zu bewältigen, obwohl Tag für Tag weitere Khampas aus den dunklen, nach Westen führenden Tunnels eintrafen. Aber Colonel John war dem Schweizer über uns mehr als nur gewachsen; er hatte sich wieder in seine vollständige Marine Corps-Kluft geworfen und schrie uns alle so laut an, daß ich überzeugt war, sie würden uns auf den Straßen hören. Und sie hätten uns bestimmt auch gehört, hätte nicht zufällig das ausgesprochen laute Dasain-Fest begonnen. Aber so hörten sie uns nicht, und wir machten weiter, wie die Sklaven angetrieben von der Peitsche des Colonels Zunge. »John Wayne trifft Ben-Hur«, murmelte Freds einmal, nachdem der Colonel explodiert war. »Nimm es nicht persönlich, er meint wirklich nicht, daß das alles deine Schuld ist.«