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«Aber lieber Freund, nach so langer Zeit! Ich kann mich doch gar nicht mehr an Einzelheiten erinnern.»

«Ich glaube doch.»

«Wirklich nicht.»

«Die Zeit bewirkt oft, daß man nebensächliche Dinge vergißt und nur die wichtigen behält.»

«Ach so, Sie wollen nur einen allgemeinen Überblick?»

«Das nicht. Ich möchte einen gewissenhaften, in die Einzelheiten gehenden Bericht über alle Geschehnisse und über alle Unterhaltungen, an die Sie sich erinnern können.»

«Und wenn ich mich dabei irre?»

«Machen Sie es, so gut Sie können.»

Neugierig blickte ihn Blake an. «Aber wozu? Aus dem Polizeibericht können Sie doch alles viel genauer erfahren.»

«Nein, Mr. Blake. Ich spreche jetzt vom psychologischen Gesichtspunkt aus mit Ihnen. Mich interessiert nicht eine Aufzählung der nackten Tatsachen; mich interessiert Ihre Auswahl der Tatsachen. Es gibt bestimmt Geschehnisse, Gespräche, die ich vergebens im Polizeibericht suchen würde.»

«Soll mein Bericht veröffentlicht werden?» fragte Blake scharf. «Kein Gedanke. Er ist nur für mich bestimmt, er soll mir helfen, meine Schlüsse zu ziehen.»

«Und Sie werden ohne meine Erlaubnis nichts daraus zitieren?»

«Darauf können Sie sich verlassen.»

«Hm... aber ich bin ein sehr beschäftigter Mann.»

«Ich weiß, daß dieser Bericht viel Zeit und Mühe erfordert. Es wäre mir ein Vergnügen.. Sie durch ein angemessenes Honorar zu entschädigen.»

Nach einer kurzen Pause meinte Blake: «Danke nein, wenn ich es tue, tue ich es gratis.»

«Aber Sie werden es tun?»

Blake sagte warnend: «Ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam, daß ich nicht für mein Gedächtnis garantieren kann.»

« Selbstverständlich. »

«Also dann werde ich es sogar gern tun. Ich glaube, in gewisser Hinsicht schulde ich das Amyas Crale.»

7 Ein rosiges Schweinchen blieb zu Haus...

Hercule Poirot war nicht der Mann, der Kleinigkeiten übersah. Seinen Überfall auf Meredith Blake hatte er sorgfältig vorbereitet. Er wußte, daß Meredith ganz anders behandelt werden mußte als sein Bruder Philip. Ein Sturmangriff wäre bei ihm nicht angebracht, hier war eine Belagerung erforderlich. Poirot war sich klar darüber, daß er sich für die Bezwingung der Festung eine geeignete Einführung verschaffen mußte, und zwar gesellschaftlicher, nicht beruflicher Art. Zum Glück hatte er im Laufe seiner Tätigkeit in vielen Grafschaften Freunde erworben, so auch in Devonshire. Als er bei Mr. Meredith Blake vorsprach, konnte er mit zwei Briefen aufwarten: der eine war von Lady Mary Lytton-Gore, einer liebenswürdigen, zurückgezogen lebenden Witwe, der andere von einem pensionierten Admiral, dessen Familie schon seit vier Generationen in der Grafschaft ansässig war.

Meredith Blake empfing Poirot höchst erstaunt. Er hatte in den letzten Jahren schon oft feststellen müssen, daß sich die Welt völlig verändert hatte. Früher waren Privatdetektive Leute, derer man sich zur Überwachung der Geschenke bei großen Hochzeitsfeierlichkeiten bediente oder zu denen man - voll Scham - zwecks Regelung einer dunklen Angelegenheit ging. Aber da schrieb nun Lady Mary Lytton-Gore: «Hercule Poirot ist ein alter Freund von mir, den ich sehr schätze. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihm gefällig wären.» Und Mary Lytton-Gore war wirklich nicht jemand, der sich mit den üblichen Privatdetektiven einlassen würde. Und Admiral Cronshaw schrieb: «Ein tadelloser Mensch, hochanständig. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihm helfen würden. Er ist ein höchst amüsanter Mann, der ausgezeichnet Geschichten erzählt!» Und der Mann selber! Ein unmöglicher Mensch! Merkwürdig gekleidet... Knopfstiefel... ein lächerlicher Schnurrbart. Kein Mann für ihn. Sah nicht aus, als sei er je auf die Jagd gegangen oder habe je Krickett oder Golf gespielt. Ein Ausländer! Leicht amüsiert las Hercule Poirot seinem Gastgeber diese Gedanken von der Stirn. Merediths eher kühler Empfang störte ihn nicht, denn er empfand eine seltsame Erregung darüber, nun hier in Handcross Manor zu sein, wo die zwei Brüder ihre Jugend verbracht hatten, von wo sie nach Alderbury hinübergingen, um dort Tennis zu spielen mit dem jungen Amyas Crale und einem Mädchen namens Caroline. Von hier aus war Meredith auch an jenem schicksalhaften Morgen vor sechzehn Jahren nach Alderbury gegangen.

Poirot fand, daß Meredith Blake genau seinen Vorstellungen entsprach. In seiner schäbigen alten Tweedjacke verkörperte er den typischen englischen Landedelmann, der in beschränkten Verhältnissen lebt. Er hatte ein gutmütiges, verwittertes Gesicht, blaßblaue Augen; der weichliche Mund wurde von einem zerzausten Schnurrbart halb verborgen. Meredith war genau das Gegenteil von seinem Bruder. Er machte einen unentschlossenen Eindruck und vermochte offensichtlich nur langsam zu denken; es schien, als habe die Zeit seinen Denkprozeß noch verlangsamt, während sie bei seinem Bruder das Tempo beschleunigt hatte.

Wie Poirot vermutet hatte, war Meredith ein Mensch, den man nicht drängen durfte; dafür steckte ihm das gemütliche englische Landleben zu sehr in den Knochen. Er sah wesentlich älter als sein Bruder aus, obwohl sie, wie Poirot wußte, nur zwei Jahre auseinander waren.

Zuerst plauderten die beiden Herren eine Weile über Lady Mary Lytton-Gore und den Admiral und andere gemeinsame Bekannte. Allmählich, höchst vorsichtig, lenkte Poirot das Gespräch auf den Zweck seines Besuches, und als Meredith entsetzt hochfuhr, erklärte er betrübt, daß das Buch unter allen Umständen geschrieben werden müsse. Miss Crale - Miss Lemarchant, wie sie jetzt heiße - habe ihn sehr gebeten, um eine würdige, diskrete Abfassung besorgt zu sein. Die Veröffentlichung der Tatsachen könnte ja leider Gottes nicht verhindert werden, aber peinliche Indiskretionen würden bestimmt vermieden werden. Poirot fügte hinzu, daß er dank seinem Einfluß stets imstande gewesen sei, die Publikation von gewissen zu persönlichen Einzelheiten zu verhindern. Meredith Blake war vor Erregung rot geworden, und seine Hand zitterte, als er sich eine Pfeife stopfte. Fast stotternd sagte er: «Es ist ab... abscheulich, auf diese Weise alte Dinge auszugraben. S-s-sechzehn Jahre ist es nun her. Warum kann man das nicht ruhen lassen?»

Achselzuckend entgegnete Poirot: «Ich bin ganz Ihrer Meinung. Aber was soll man tun? Solche Dinge werden gelesen. Und jedermann kann über Morde schreiben und sie kommentieren. »

«Wie widerwärtig!»

«Unsere Zeit ist nicht sehr taktvoll. Sie wären überrascht, Mr. Blake, wenn Sie wüßten, wie viele unerfreuliche Veröffentlichungen ich schon mit Erfolg gedämpft habe. Ich werde sehr darauf bedacht sein, Miss Crales Gefühle zu schonen.»

«Die kleine Carla!» murmelte Meredith. «Amyas' Kind ist nun auch schon erwachsen, man kann es kaum glauben.»

«Ja, die Zeit fliegt. Wie Sie aus Miss Crales Brief entnommen haben werden, möchte sie unbedingt alle Einzelheiten der traurigen Geschehnisse erfahren.»

Meredith erwiderte ärgerlich: «Aber wozu? Warum denn alles wieder ausgraben? Es wäre doch viel besser, es zu vergessen.»

«Das sagen Sie, Mr. Blake, weil Sie alles genau wissen. Aber Miss Crale weiß nichts, das heißt, sie kennt die Geschehnisse nur aus den amtlichen Akten.»

«Das stimmt. Das arme Kind. Was für eine schreckliche Situation für sie! Wie entsetzlich muß es für sie gewesen sein, als sie die Wahrheit erfuhr! Und dann diese herzlosen, trockenen Polizeiberichte.»

«Die Wahrheit kann nie durch karge amtliche Berichte zu ihrem Recht kommen. Gerade die Dinge, die darin nicht erwähnt werden, sind meist die ausschlaggebenden. Die Gefühle, die Charaktere, die mildernden Umstände...» Er hielt inne, und Meredith griff eifrig ein, als habe er sein Stichwort erhalten, «Mildernde Umstände! Das ist es! Wenn es je mildernde Umstände gegeben hat, dann in diesem Fall! Amyas Crale war ein alter Freund von mir - unsere Familien sind seit Generationen miteinander befreundet. Dennoch muß ich zugeben, daß er sich, offen gesagt, schandbar benommen hat. Er war ein Künstler, was ja vieles entschuldigt, aber es war seine Schuld, daß die Dinge auf die Spitze getrieben wurden. Kein normaler, anständiger Mann hätte es zu einer solchen Situation kommen lassen dürfen.»