«Sind Sie sicher, daß ihr diese Absicht überhaupt kam?» fragte Poirot.
Blake starrte ihn an. «Wie bitte? Ich verstehe Sie nicht ganz...»
«Ich frage Sie, ob Sie sicher sind, daß ihr der Mordgedanke überhaupt je in den Sinn kam? Sind Sie völlig davon überzeugt, daß Caroline Crale vorbedacht einen Mord begangen hat?» Schwer atmend antwortete Blake : «Aber wenn nicht sie... wenn nicht... glauben Sie etwa... an einen Unfall?»
«Nicht unbedingt.»
«Wie kommen Sie dazu?»
«Sie haben Caroline Crale als besonders zart und gütig geschildert. Verüben zarte, gütige Menschen einen Mord?»
«Sie war zart, sie war gütig... aber trotzdem.. sie hatten entsetzliche Auseinandersetzungen. Caroline konnte unbedachte Dinge sagen, sie war imstande, auszurufen: <Ich hasse dich, ich wünschte, du wärst tot!> Aber zwischen dem Wort und der Tat ist doch ein gewaltiger Unterschied.»
«Ihrer Ansicht nach war es also kaum denkbar, daß Mrs. Crale einen Mord beging?»
«Sie treffen den Nagel auf den Kopf, Monsieur Poirot. Ich kann Ihnen nur sagen, daß es höchst unwahrscheinlich war, und ich kann es mir nur so erklären, daß die Herausforderung zu groß war. Sie vergötterte ihren Mann... und unter diesen Umständen könnte eine Frau imstande sein... zu töten.» Poirot nickte. «Da haben Sie recht.»
«Ich war zunächst wie betäubt; ich hielt es nicht für möglich. Und es war nicht möglich.. verstehen Sie mich.. es war nicht die richtige Caroline, die es getan hat.»
«Sind Sie ganz sicher, daß - im juristischen Sinne des Wortes
- Caroline Crale den Mord begangen hat?» Wieder starrte ihn Blake an. «Aber wenn sie es nicht getan hat...»
«Ja, wenn sie es nicht getan hat, was dann?»
«Ich kann mir keine andere Möglichkeit vorstellen. Ein Unfall? Das ist doch unmöglich.»
«Völlig unmöglich.»
«Und an einen Selbstmord kann ich nicht glauben. Diese Behauptung wurde aufgestellt, aber für jeden, der Crale kannte, war sie unglaubhaft.»
«Richtig.»
«Also was bleibt?» fragte Blake.
Poirot antwortete kühclass="underline" «Es bleibt die Möglichkeit, daß Amyas Crale von jemand anders getötet wurde.»
«Aber das ist doch absurd.»
«Glauben Sie?»
«Ich bin sicher. Wer hätte ihn töten wollen? Wer hätte ihn töten können?»
«Das sollten Sie eher wissen als ich.»
«Aber Sie glauben doch nicht ernsthaft...»
«Vielleicht nicht, aber es interessiert mich, alle Möglichkeiten zu erwägen. Denken Sie bitte ernsthaft darüber nach. Sagen Sie mir, was Sie denken.»
Meredith starrte ihn einige Sekunden an, dann senkte er seinen Blick und schüttelte den Kopf. «Ich kann mir keine andere Möglichkeit denken, obwohl ich es nur zu gerne tun würde. Wenn ich auch nur den leisesten Verdacht auf jemand anders hätte, würde ich mit ganzem Herzen an Carolines Unschuld glauben. Ich will ja nicht an ihre Schuld glauben; ich konnte es auch damals zunächst nicht. Aber wer könnte es sonst gewesen sein? Philip? Philip war Crales bester Freund. Elsa? Lächerlich. Ich? Sehe ich wie ein Mörder aus? Eine biedere Gouvernante? Zwei alte treue Dienstboten? Oder gar das Kind Angela? Nein, Monsieur Poirot, es gibt keine andere Möglichkeit. Nur seine Frau konnte Amyas Crale getötet haben, aber er trieb sie dazu. Und so war es gewissermaßen doch Selbstmord.»
«Sie meinen, daß er als Folge seiner Taten starb, wenn auch nicht durch seine eigene Hand?»
«Ja. Es ist zwar eine phantastische Formulierung, aber... Ursache und Wirkung... Sie wissen ja.»
«Haben Sie je darüber nachgedacht, Mr. Blake, daß die Mordursache fast stets beim Ermordeten selbst liegt?»
«Nein... aber ich verstehe, was Sie meinen.»
«Erst wenn man genau weiß, was für ein Mensch der Ermordete war, kann man die Umstände eines Mordes klar erkennen. Und das suche ich: ein Bild des Menschen Amyas Crale. Sie und Ihr Bruder haben mir dazu verhelfen.» Meredith hatte aus diesem Satz nur ein Wort aufgegriffen, und er stieß hervor: «Philip?»
«Ja.»
«Sie haben auch mit ihm gesprochen?»
«Ja.»
«Sie hätten erst zu mir kommen müssen», sagte Meredith scharf.
Poirot erwiderte mit einer höflichen Geste: «Gemäß dem Recht der Erstgeburt hätte ich das tun müssen; ich weiß ja, daß Sie der Ältere sind. Aber da Ihr Bruder in der Nähe von London lebt, war es leichter für mich, ihn zuerst aufzusuchen.» Meredith runzelte die Stirn und sagte: «Philip ist voreingenommen, er war es immer. Hat er nicht versucht, Sie gegen Caroline einzunehmen?»
«Würde das nach so langer Zeit noch etwas ausmachen?»
Meredith seufzte. «Ich habe vergessen, wie lange dies alles zurückliegt und daß alles vorbei ist. Man kann Caroline nicht mehr wehtun. Trotzdem möchte ich nicht, daß Sie einen falschen Eindruck von ihr gewinnen.»
«Und Sie glauben, daß Ihr Bruder mir einen falschen Eindruck vermitteln könnte?»
«Offen gestanden ja. Sehen Sie, es hat immer eine gewisse... wie soll ich mich ausdrücken... eine gewisse Antipathie zwischen ihm und Caroline bestanden.»
«Warum?»
Diese Frage schien Blake zu ärgern. «Warum? Woher soll ich wissen, warum? Es war nun mal so. Philip hackte bei jeder Gelegenheit auf ihr herum. Ich glaube, er war wütend, daß Amyas sie heiratete. Nach der Hochzeit ging er über ein Jahr lang nicht zu ihnen, obwohl Amyas sein bester Freund war. Ich glaube, daß das der wirkliche Grund war. Wahrscheinlich fand er, keine Frau sei für Amyas gut genug. Und vielleicht fürchtete er, daß Carolines Einfluß ihrer Freundschaft schaden könnte.»
«War das der Fall?»
«Nein, natürlich nicht. Amyas hatte Philip bis zu seinem Tod genauso gern wie früher, obwohl er ihn oft verulkte und ihn einen Geldraffer und Spießer nannte. Aber das war Philip egal. Er grinste einfach dazu und sagte, es sei ein Glück, daß Amyas wenigstens einen respektablen Freund habe.»
«Wie reagierte Ihr Bruder auf Crales Affäre mit Elsa Greer?»
«Das ist schwer zu beantworten. Er ärgerte sich, daß Amyas sich lächerlich machte, und sagte immer wieder, Amyas würde es eines Tages bereuen; aber andererseits empfand er, glaube ich, eine gewisse Schadenfreude, weil Caroline litt. Sie dürfen mich jedoch nicht falsch verstehen - ich bin der Ansicht, daß er das nur in seinem Unterbewußtsein empfand, und ich glaube nicht, daß er sich je darüber klar wurde.»
«Und nach der Tragödie?»
Meredith schüttelte schmerzlich den Kopf. «Der arme Philip. Er war völlig gebrochen. Er hatte Amyas vergöttert, es war eine Art Heldenverehrung. Amyas und ich waren gleichaltrig, Philip war zwei Jahre jünger, und er blickte schon als Kind immer zu Amyas auf. Ja, es war ein schwerer Schlag für ihn. Und er war entsetzlich bitter Caroline gegenüber.»
«Er hegte also bestimmt keinen Zweifel an ihrer Schuld?»
«Keiner von uns...» antwortete Meredith. Schweigen folgte. Dann sagte Blake anklagend: «Es war alles vorbei, vergessen, und jetzt kommen Sie und rühren alles wieder auf...»
«Ich nicht... Caroline Crale.»
Verblüfft starrte ihn Meredith an. «Caroline? Was soll das heißen?»
Ihn fest ansehend antwortete Poirot: «Caroline Crale die Zweite.»
«Ach so... das Kind, die kleine Carla. Ich hatte Sie mißverstanden.»
«Sie dachten, ich meine die wirkliche Caroline Crale? Sie dachten, sie würde... wie soll ich mich ausdrücken.. sie würde im Grab keine Ruhe finden?» Blake erschauerte. «Schweigen Sie!»
«Wissen Sie, daß sie ihrer Tochter schrieb - die letzten Worte, die sie je schrieb - daß sie unschuldig sei?»
Meredith starrte ihn an und sagte ungläubig: «Caroline hat das geschrieben?»
«Ja... Überrascht es Sie?»
«Es würde auch Sie überraschen, wenn Sie sie im Gerichtssaal gesehen hätten. Ein armes, gehetztes, hilfloses Geschöpf, das sich nicht einmal wehrte.»