«Sie wirkte geschlagen?»
«Nein, nein, das nicht. Ich glaube, es war das Bewußtsein, daß sie den Mann, den sie liebte, getötet hatte... so kam es mir vor.»
«Sind Sie jetzt nicht mehr so überzeugt davon?»
«So etwas zu schreiben.. feierlich zu schreiben angesichts des Todes... »
«Es war vielleicht eine fromme Lüge.»
«Vielleicht», entgegnete Meredith zweifelnd, «aber das gleicht ihr gar nicht.»
Poirot nickte. Carla Lemarchant hatte dasselbe gesagt. Doch Carla hatte nur Kindheitserinnerungen, während Meredith Blake Caroline gut gekannt hatte. Es war für Poirot die erste Bestätigung, daß Carla mit ihrem Glauben recht haben könnte.
Meredith blickte, ihn durchdringend an und sagte langsam: «Wenn... wenn Caroline unschuldig war... aber es ist ja Wahnsinn! Ich kann keine andere Möglichkeit sehen... Und Sie? Was glauben Sie?»
Schweigen folgte. Schließlich sagte Poirot: «Ich glaube noch nichts. Ich sammle nur Eindrücke. Wie war Caroline Crale? Wie war Amyas Crale? Wie waren die andern, die damals dabei waren? Was ist in diesen zwei Tagen geschehen? All das muß ich genau wissen, muß die Tatsachen, eine um die andere, genau untersuchen. Ihr Bruder wird mir dabei helfen. Er schickt mir einen Bericht über die Ereignisse, soweit er sich an sie erinnern kann.»
Meredith erwiderte scharf: «Dabei wird nicht viel herauskommen. Philip ist ein sehr beschäftigter Mann. Sowie etwas vorbei ist, verliert er es aus dem Gedächtnis. Wahrscheinlich wird er sich an alles falsch erinnern.»
«Es werden natürlich Lücken in seinem Gedächtnis sein, damit rechne ich.»
«Ich will Ihnen etwas sagen» - Meredith hielt abrupt inne, dann fuhr er leicht errötend fort - «wenn Sie wollen, gebe auch ich Ihnen einen Bericht. Sie hätten dann eine Vergleichsmöglichkeit.»
«Das wäre mir höchst wertvoll. Eine ausgezeichnete Idee!»
«Gut, ich werde es tun. Irgendwo habe ich noch alte Tagebücher. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam», er lachte verlegen, «daß ich kein Literat bin. Sie dürfen nicht zuviel von mir erwarten.»
«Der Stil spielt für mich keine Rolle. Ich möchte einfach eine Aufzählung von allem, an das Sie sich erinnern. Was jeder einzelne sagte, wie er ausgesehen hat... einfach alles, was geschehen ist. Führen Sie auch die Dinge an, die Sie für unwichtig halten. Alles kann dazu dienen, daß ich mir ein Bild zu machen vermag.»
«Ja, ich verstehe. Es muß schwierig sein, sich von Menschen und Örtlichkeiten, die man nie gesehen hat, eine Vorstellung zumachen.»
Poirot nickte. «Ja. Nun habe ich noch eine Bitte. Alderbury ist doch das Nachbargut? Wäre es möglich, daß ich dorthin gehen könnte, um mit eigenen Augen den Schauplatz der Tragödie zu sehen?»
«Ich kann Sie sofort hinführen. Natürlich ist dort viel verändert.»
«Ist das Gelände überbaut worden?»
«So schlimm ist es nicht, Gott sei Dank. Eine WohltätigkeitsOrganisation hat den Besitz gekauft, und jetzt ist Alderbury eine Art Jugendherberge. Scharen von jungen Leuten gehen im Sommer dorthin. Die Zimmer sind in kleine Kammern abgeteilt worden, und auch das Gelände ist zum Teil verändert.»
«Sie müssen es für mich rekonstruieren.»
«Ich werde mein Bestes tun. Ich wünschte, Sie hätten es in den alten Zeiten gesehen; es war eine der schönsten Besitzungen.» Meredith führte seinen Gast über die Terrasse in den Garten hinaus und ging dann einen Wiesenhang hinunter. «Wer hat es eigentlich verkauft?» fragte Poirot. «Der Vormund. Carla hat alles geerbt. Da Crale kein Testament gemacht hatte, wurde sein Vermögen zwischen seiner Frau und dem Kind geteilt. Und Caroline hat alles dem Kind vermacht.»
«Ihrer Halbschwester nichts?»
«Angela hatte von ihrem Vater ein Vermögen geerbt.» Poirot nickte. «Ach so.» Dann rief er: «Aber wo führen Sie mich denn hin? Wir kommen ja direkt an den Strand!»
«Ich muß Ihnen die Topographie erklären. Sehen Sie, dort ist eine schmale Bucht, die tief landeinwärts geht; sie sieht fast wie eine Flußmündung aus. Um zu Land nach Alderbury zu kommen, muß man einen großen Umweg um diese Bucht machen, und so ist es am einfachsten, mit dem Boot hinüberzurudern. Alderbury liegt direkt gegenüber. Dort, Sie können das Haus zwischen den Bäumen sehen.»
Zwei Boote waren auf den Strand gezogen. Mit Poirots ungeschickter Hilfe schob Meredith das eine ins Wasser, und dann ruderten sie zum andern Ufer, wo Blake an einem kleinen Steindamm anlegte. Er half seinem Gast beim Aussteigen, band das Boot fest und schlug dann einen steilen Pfad durch den bewaldeten Abhang ein.
«Ich glaube nicht, daß wir jemandem begegnen», sagte er, «im April ist niemand hier. Herrliches Wetter übrigens heute, wie im Sommer. Auch damals war ein herrlicher Tag. Mehr Juli als September. Strahlende Sonne, nur eine frische Brise wehte.» Sie verließen nun das Wäldchen und folgten dem Pfad um einen Felsvorsprung herum; Meredith deutete nach oben: «Über uns ist die sogenannte Schanze, wir gehen jetzt um sie herum.»
Wieder führte der Pfad sie zwischen einer Baumgruppe hindurch, dann machte er eine scharfe Biegung, und sie gelangten zu einer Tür in einer hohen Mauer; der Pfad ging im Zickzack weiter hinauf. Meredith öffnete die Tür, und die beiden traten hindurch.
Einen Augenblick war Poirot nach dem Schatten unter den Bäumen wie geblendet. Die Schanze war ein künstlich angelegtes Plateau, das auf der Seeseite eine Brustwehr mit Zinnen hatte, hinter der eine Miniaturkanone stand. Man hatte den Eindruck, als hinge man über dem Meer; wenn man über die Zinnen hinausblickte, sah man nichts als das blaue Wasser. «Ein reizender Fleck», sagte Meredith. Verächtlich wies er mit dem Kopf auf eine Art Pavillon an der rückwärtigen Mauer. «Das war natürlich nicht da... da stand nur ein alter Schuppen, in dem die Malutensilien und einige Flaschen Bier und ein paar Liegestühle waren. Auch gab es noch keinen Zementboden. Hier stand nur eine eiserne Bank und ein eiserner Tisch. Das war alles. Aber es hat sich dennoch nicht sehr verändert.» Seine Stimme zitterte leicht.
«Und hier ist es geschehen?» fragte Poirot.
Meredith nickte. «Die Bank stand dort... beim Schuppen. Dort lag Amyas ausgestreckt. Er pflegte sich zuweilen dort hinzulegen, wenn er malte - er warf sich einfach hin und starrte und starrte... und dann sprang er wieder auf und pinselte wie ein Wahnsinniger drauflos. Darum sah er damals auch so lebendig aus, als ob er nur eben eingeschlafen wäre. Aber seine Augen waren weit offen.. hatte keine Schmerzen... das ist das einzige, worüber ich froh bin...» Poirot fragte ihn etwas, was er bereits wußte: «Wer hat ihn hier gefunden?»
«Sie, Caroline... nach dem Mittagessen. Elsa und ich waren die letzten, die ihn lebend gesehen haben. Aber die Wirkung des Giftes mußte da schon begonnen haben, er sah so merkwürdig aus.»
Unvermittelt wandte er sich um und verließ die Schanze. Poirot folgte ihm wortlos.
Die beiden gingen den Zickzackpfad hinauf. Oberhalb der Schanze befand sich ein anderes kleines Plateau, das ebenfalls von Bäumen überschattet war und auf dem eine Bank und ein Tisch standen.
«Hier ist nicht viel verändert», erklärte Meredith. «Nur gab es noch nicht diese Holzbank, eine eiserne stand da. Man saß hart auf ihr, aber die Aussicht war herrlich.» In der Tat hatte man einen reizvollen, von Bäumen umrahmten Blick über die Schanze hinweg auf die schmale Bucht.
«An jenem Morgen saß ich lange hier», erklärte Meredith. «Die Bäume waren noch nicht so hoch wie jetzt, man konnte die Brustwehr der Schanze gut sehen. Dort saß Elsa, den Kopf zur Seite gewandt.»
Sie gingen weiter, bis sie unversehens vor dem schönen alten Haus im georgianischen Stil standen. Auf dem Rasen davor waren fünfzig kleine Badekabinen aufgestellt. «Die Jungens schlafen hier, die Mädchen im Haus», erklärte Meredith. «Im Haus werden Sie nicht viel sehen können; wie ich Ihnen schon sagte, sind alle Zimmer abgeteilt worden. Dort war ein kleines Treibhaus, das ist aber jetzt abgerissen, und dafür ist eine Loggia gebaut worden.» Mit einem Ruck wandte er sich ab. «Wir nehmen nun einen anderen Weg. Altes taucht jetzt wieder vor mir auf... Gespenster... lauter Gespenster!»