«Mein lieber Lord Dittisham, es gibt viele Möglichkeiten, ein historisches Ereignis auszulegen. Nur ein Beispieclass="underline" über Maria Stuart sind unzählige Bücher geschrieben worden, in denen sie abwechslungsweise als Märtyrerin, als hemmungslose, sittenlose Frau, als schlichte Heilige, als Mörderin und Intrigantin oder als Opfer der Umstände geschildert wurde. Man kann es sich auswählen.»
«Und in diesem Fall?» entgegnete Dittisham. «Crale wurde von seiner Frau umgebracht, darüber besteht kein Zweifel. Während der Verhandlung wurden gegen meine Frau Verleumdungen ausgesprochen, die meiner Ansicht nach unberechtigt waren, und nach Verkündigung des Urteils mußte sie unter Polizeibedeckung den Saal durch eine Hintertür verlassen. Das Publikum war feindlich gegen sie eingestellt.»
«Die Engländer sind ein sehr moralisches Volk», sagte Poirot. «Zum Teufel mit ihnen, sie sind es wirklich!» stieß Dittisham hervor. Dann fragte er: «Und Sie?»
«Ich führe ein sehr moralisches Leben. Das ist aber nicht dasselbe, wie moralische Ansichten zu haben.»
«Ich habe mir manchmal überlegt, wie diese Mrs. Crale in Wirklichkeit war. All dieses Gerede von der hintergangenen Ehefrau... ich habe das Gefühl, daß etwas anderes dahinter steckte.»
«Ihre Frau Gemahlin weiß es vielleicht.»
«Meine Frau hat mir gegenüber noch nie ein Wort von dem Fall Crale erwähnt», sagte Dittisham, stand unvermittelt auf und läutete. «Meine Frau erwartet Sie.» Die Tür öffnete sich. «Sie haben geläutet, Mylord?»
«Führen Sie Monsieur Poirot zu Lady Dittisham.» Poirot folgte dem Butler zwei Treppen hinauf zum Wohnzimmer der Dame des Hauses. Er wurde gemeldet und in den luxuriös ausgestatteten Raum geleitet.
Sie starb jung..., dachte er unwillkürlich, als er Elsa Dittisham, die Elsa Greer gewesen war, gegenüb erstand. Er hätte sie nach dem Bild, das Meredith Blake ihm gezeigt hatte, nicht erkannt. Das Mädchen auf dem Bild war die verkörperte Jugend, erfüllt von Lebenskraft. Hier sah er keine Jugend, diese Frau sah aus, als wäre sie nie jung gewesen. Aber sie war schön, viel schöner als auf dem Bild, und bestimmt nicht alt. Sie konnte höchstens sechsunddreißig Jahre alt sein, da sie zur Zeit der Tragödie zwanzig gewesen war. Ihr schwarzes Haar lag glatt um ihren wohlgeformten Kopf, ihre Züge waren fast klassisch zu nennen, und sie war sorgfältig und unauffällig zurechtgemacht.
Der Anblick versetzte ihm fast einen Schlag. Vielleicht war es die Schuld des alten Jonathan, der sie mit Julia verglichen hatte... die Frau, die vor ihm stand, war keine Julia, oder man mußte sich eine Julia vorstellen, die, ihres Romeo beraubt, ein sinnlos gewordenes Leben weiterlebt... Es gehörte doch zu Julia, daß sie jung sterben mußte. Elsa Greer aber hatte weiterleben müssen.. Sie begrüßte ihn gelassen. «Ich bin so gespannt, Monsieur Poirot. Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.» Es interessiert sie nicht, nichts interessiert sie, dachte er. Sie hatte große graue Augen wie tote Teiche. «Es ist mir sehr peinlich, Madame, höchst peinlich», rief Poirot dramatisch aus.
«Warum?»
«Weil die Erinnerung an diese Tragödie für Sie schmerzhaft sein muß.»
Sie blickte ihn amüsiert, ehrlich amüsiert an. «Vermutlich hat Ihnen mein Mann diese Idee in den Kopf gesetzt», sagte sie. «Er hat doch mit Ihnen gesprochen? Aber er versteht mich nicht, er hat mich nie verstanden. Ich bin gar nicht so sensibel, wie er glaubt.» Mit immer noch leicht amüsiertem Ton fuhr sie fort: «Sie müssen wissen, daß mein Vater Fabrikarbeiter war. Er hat sich heraufgearbeitet und ein Vermögen gemacht. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn er eine dünne Haut gehabt hätte. Und ich bin wie er.» Poirot dachte: Das stimmt. Ein sensibler Mensch hätte sich nicht in Caroline Crales Haus eingenistet. «Also was kann ich für Sie tun?» wiederholte sie ihre Frage. «Wird es Ihnen bestimmt nicht schmerzlich sein, wenn ich die Vergangenheit aufrühre, Madame?»
Sie überlegte, und Poirot stellte erstaunt fest, daß Lady Dittisham im Grunde genommen ein aufrichtiger Mensch war. Sie mochte aus Notwendigkeit lügen, aber bestimmt nie ohne triftigen Grund.
Langsam antwortete sie: «Nein, ich glaube nicht... obwohl ich wünschte, es wäre so.»
«Warum?»
Ärgerlich sagte sie: «Es ist so langweilig, nie etwas zu empfinden... »
Poirot dachte: Ja, Elsa Greer ist tot...
Laut sagte er: «Jedenfalls erleichtert das meine Aufgabe, Lady Dittisham.»
«Also, was wollen Sie wissen?» fragte sie beinahe vergnügt. «Haben Sie ein gutes Gedächtnis, Madame?»
«Ich glaube, ja.»
«Wird es Ihnen bestimmt nichts ausmachen, die Ereignisse eingehend zu erörtern?»
«Nein, wirklich nicht. Es kann einem nur etwas weh tun, während es geschieht.»
«Es gibt Menschen, die so empfinden, das weiß ich.»
«Das ist das, was Edward - mein Mann - nicht verstehen kann. Er glaubt, daß die Gerichtsverhandlung und das ganze Drum und Dran eine Qual für mich gewesen sei.»
«War es das nicht?»
«Nein, ich habe es genossen», sagte sie mit offensichtlicher Befriedigung. «Mein Gott, wie hat dieser brutale Mensch, dieser Depleach, auf mir herumgehackt. Aber es war ein Genuß für mich, denn er hat mich nicht kleingekriegt.» Lächelnd blickte sie Poirot an. «Ich hoffe, ich zerstöre nicht Ihre Illusionen. Ich hätte mich, als Mädchen von zwanzig Jahren, eigentlich vor Scham winden müssen, hätte mich verkriechen müssen, aber ich dachte nicht daran. Es war mir ganz gleich, was man von mir sagte. Ich wollte nur eines!»
«Und das war?»
«Daß sie gehängt würde, natürlich!»
Er blickte auf ihre Hände, schöne Hände mit langen gewölbten Nägeln - räuberische Hände.
«Sie halten mich für rachsüchtig? Jawohl, ich bin rachsüchtig, wenn man mir etwas angetan hat. Diese Frau war meiner Ansicht nach das gemeinste, was man sich vorstellen kann. Sie wußte, daß Amyas mich liebte, sie wußte, daß er sie verlassen wollte, und sie brachte ihn um, damit ich ihn nicht bekäme. Finden Sie das nicht auch gemein?»
«Sie haben wohl kein Verständnis für Eifersucht?»
«Nein. Wenn man verloren hat, hat man verloren. Wenn man seinen Mann nicht halten kann, läßt man ihn eben gehen. Diese Besitzgier begreife ich nicht.»
«Sie hätten sie vielleicht begriffen, wenn Sie ihn geheiratet hätten.»
«Das glaube ich nicht. Wir waren nicht...» Sie lächelte Poirot plötzlich zu. Er fand dieses Lächeln erschreckend - es war völlig gefühllos. «Etwas möchte ich klarstellen: glauben Sie nur nicht, daß Amyas Crale ein unschuldiges junges Mädchen verführt hätte. Kein Gedanke! Ich war die Verantwortliche. Ich habe ihn auf einer Gesellschaft kennengelernt, und ich flog ihm zu... ich wußte, daß ich ihn haben mußte...»
«Obwohl er verheiratet war?»
«Was bedeutet schon der Trauschein? Wenn er mit seiner Frau unglücklich war und mit mir glücklich sein konnte, warum nicht? Wir alle haben nur ein Leben zu leben.»
«Aber es heißt, er wäre mit seiner Frau glücklich gewesen.» Elsa schüttelte den Kopf. «Nein, sie lebten wie Hund und Katze, sie stritten sich dauernd, sie nörgelte an ihm herum... sie war... oh, sie war ein gräßliches Weib!» Sie stand auf und zündete sich eine Zigarette an, dann fuhr sie leicht lächelnd fort: «Wahrscheinlich bin ich ungerecht ihr gegenüber. Aber ich glaube wirklich, daß sie gräßlich war.»
«Es war eine große Tragödie», sagte Poirot. «Ja, eine große Tragödie.» Sie wandte sich ihm plötzlich zu, und in die müde Gleichförmigkeit ihrer Züge kam etwas Leben. «Und ich war es, die dabei getötet wurde, verstehen Sie? Mich hat es getötet. Seitdem habe ich nichts mehr... gar nichts.» Ihre Stimme wurde flach, beinahe tonlos. «Leere!» Sie machte eine wütende Handbewegung. «Wie ein ausgestopfter Fisch in einem Glaskasten!»