«Hat Ihnen Amyas Crale soviel bedeutet?» Sie nickte. Es wirkte irgendwie vertraulich, fast rührend. «Ich bin immer direkt auf mein Ziel losgegangen.» Düster überlegte sie. «Wirklich, man sollte sich einen Dolch in die Brust stoßen, wie Julia. Aber das wäre das Eingeständnis, daß man erledigt ist... daß das Leben einen besiegt hat.»
«Und statt dessen?»
«Sollte man sich alles nehmen.. genau wie vorher... wenn man erst einmal darüber hinweggekommen ist. Ich kam darüber hinweg. Es bedeutete mir nichts mehr, ich glaubte, ich könnte zum nächsten Akt übergehen.»
Ja, zum nächsten Akt. Poirot sah sie klar vor sich, wie sie mit aller Macht versuchte, diesen Entschluß durchzuführen. Er sah sie, schön, reich, verführerisch, sah, wie sie mit gierigen, räuberischen Händen versuchte, ein Leben zu füllen, das leer war. Sie hatte sich wohl von Heldenverehrung etwas erhofft: Heirat mit einem berühmten Flieger... dann mit einem Forschungsreisenden, diesem Riesen Arnold Stevenson, der wahrscheinlich äußerlich Amyas Crale glich.. dann eine andere Version der schöpferischen Kunst: Dittisham!
Sie fuhr fort: «Ich war nie eine Heuchlerin. Es gibt ein spanisches Sprichwort, das mir von jeher gefallen hat: <Nimm, was du haben willst, und zahle dafür, sagt Gott!> Genau das habe ich getan. Ich nahm, was ich haben wollte, aber ich war stets bereit, dafür zu zahlen.»
«Sie verstehen aber eines nicht: es gibt Dinge, die man nicht kaufen kann», widersprach Poirot. Sie starrte ihn an und sagte: «Ich meine nicht nur Geld.»
«Ich verstehe, was Sie meinen. Aber nicht alles im Leben hat seine Preisetikette. Es gibt Dinge, die nicht zum Verkauf stehen.»
«Unsinn!»
Er lächelte leicht. In ihrer Stimme lag die Arroganz des erfolgreichen Fabrikarbeiters, der zu Reichtum emporgestiegen ist. Und sie tat ihm plötzlich leid. Er blickte auf dieses zeitlose, glatte Gesicht, die müden Augen, und er dachte an das Mädchen, das von Amyas Crale gemalt worden war... Elsa sagte: «Erzählen Sie mir von dem Buch. Was ist der Zweck? Wer hatte die Idee?»
«Verehrte Lady, was für einen anderen Zweck sollte es haben, als die Sensationen von gestern mit der Sauce von heute zu servieren?»
«Aber Sie sind kein Schriftsteller?»
«Nein, ich bin ein Kriminalspezialist.»
«Sie werden von Kriminalschriftstellern zu Rate gezogen?»
«Nicht immer. In diesem Fall jedoch habe ich einen Auftrag.»
«Von wem?»
«Ich verfasse dieses Buch im Auftrag einer interessierten Person.»
«Im Auftrag von wem?»
«Von Miss Carla Lemarchant.»
«Wer ist das?»
«Die Tochter von Amyas und Caroline Crale.» Elsa starrte ihn einige Sekunden an, dann sagte sie: «Richtig, da war ja ein Kind. Ich erinnere mich; sie muß jetzt wohl erwachsen sein.»
«Ja, sie ist einundzwanzig.»
«Wie ist sie?»
«Groß und dunkel und... ich glaube, schön. Und sie hat Mut und ist eine Persönlichkeit.»
«Ich möchte sie gerne kennenlernen», sagte Elsa nachdenklich. «Vielleicht legt sie keinen Wert darauf.»
Sie blickte ihn überrascht an. «Wieso? Ach, ich verstehe. Aber das ist doch Unsinn! Sie kann sich doch sicher an nichts erinnern, sie wird damals höchstens sechs Jahre gewesen sein.»
«Sie weiß, dß ihre Mutter wegen Ermordung ihres Vaters verurteilt wurde.»
«Und sie glaubt, es sei meine Schuld?»
«Das wäre möglich.»
Achselzuckend erwiderte sie: «Wie dumm! Wenn sich Caroline wie ein vernünftiger Mensch benommen hätte...»
«Sie fühlen sich also nicht verantwortlich?»
«Warum sollte ich? Ich brauche mich nicht zu schämen. Ich habe ihn geliebt, ich hätte ihn glücklich gemacht!» Ihr Gesicht verjüngte sich, und plötzlich erkannte er das Mädchen von dem Bild wieder. «Wenn Sie es nur mit meinen Augen sehen könnten, wenn Sie wüßten...»
Sich vorbeugend, unterbrach er sie: «Aber gerade das will ich ja. Sehen Sie, Mr. Philip Blake, der damals dabei war, schreibt mir einen ausführlichen Bericht über die damaligen Ereignisse. Meredith Blake wird dasselbe tun. Und wenn Sie...» Elsa Dittisham holte tief Atem und sagte verächtlich: «Diese beiden! Philip war immer stupid, und Meredith scharwenzelte um Caroline herum, aber er war ein guter Kerl. Doch aus ihren Berichten können Sie sich kein richtiges Bild machen.» Er beobachtete sie, sah, wie sich ihre Augen belebten, sah, wie eine tote Frau wieder zum Leben erwachte. Wild stieß sie hervor: «Wollen Sie die Wahrheit wissen? Nicht zur Veröffentlichung, nur für Ihren eigenen Gebrauch...»
«Ich verpflichte mich, nichts ohne Ihre Einwilligung zu veröffentlichen.»
«Ich möchte die Wahrheit schriftlich niederlegen...» Sie überlegte einige Sekunden und fuhr dann fort: «In die Vergangenheit zurückkehren.. alles niederschreiben.. Ihnen zeigen, wie sie war...» Ihre Augen blitzten, ihre Brust hob sich leidenschaftlich. «Sie hat ihn umgebracht, sie hat Amyas umgebracht, Amyas, der leben wollte, der das Leben liebte, der das Leben genoß. Haß sollte nicht stärker sein als Liebe, aber ihr Haß war stärker. Und mein Haß auf sie ist... ich hasse sie... ich hasse sie... ich hasse sie...!» Sie trat zu ihm, beugte sich nieder und packte seinen Arm. «Sie müssen verstehen.. Sie müssen verstehen, was wir einander bedeuteten, ich meine Amyas und ich. Ich werde Ihnen etwas zeigen.»
Sie eilte durch das Zimmer, schloß einen kleinen Schreibtisch auf und holte etwas aus einem Fach. Dann kam sie zurück, in der Hand einen zerknitterten Briefbogen, dessen Schrift verblaßt war. Sie kam Poirot vor wie ein Kind, das ihm ein eifersüchtig gehütetes Spielzeug zeigte.
Er las:
«Elsa, Du herrliches Geschöpf! Es hat nie etwas Schöneres als Dich gegeben. Aber ich fürchte, ich bin zu alt für Dich, ein älterer, launenhafter, wankelmütiger Satan. Traue mir nicht, glaube mir nicht, ich bin nichts wert, abgesehen von meiner Arbeit. Was gut in mir ist, steckt in meiner Arbeit. Sage also nicht, ich hätte Dich nicht gewarnt. Zum Teufel! Mein Süßes, ich werde Dich trotzdem haben. Ich würde für Dich zur Hölle gehen, und Du weißt es. Und ich werde Dich malen, werde ein Bild schaffen, daß diese spießige Welt sich auf den Kopf stellt und das Maul aufreißt! Ich bin wahnsinnig, ich bin verrückt nach Dir, ich kann nicht mehr schlafen, ich kann nicht essen. Elsa... Elsa... Elsa... ich gehöre Dir für immer, bis in den Tod. Amyas.»
Vor sechzehn Jahren geschrieben. Verblaßte Tinte, zerknittertes Papier, aber die Worte lebten noch... vibrierten.. Er betrachtete die Frau, an die dieser Brief gerichtet war. Aber es war keine Frau mehr, die er sah, es war ein junges Mädchen, das liebt. Wieder dachte Poirot an Julia.
9 Ein rosiges Schweinchen bekam keins...
«Darf ich fragen, wozu, Monsieur Poirot?» Hercule Poirot überlegte die Antwort. Er sah, wie ihn ein Paar gescheite graue Augen in einem runzligen kleinen Gesicht prüfend betrachteten.
Er war in den obersten Stock der kahlen Mietskaserne gestiegen, hatte an eine Tür geklopft und war in eines jener Zimmer getreten, die als Wohnungen für berufstätige Frauen bezeichnet wurden.
Hier, in einem kleinen quadratischen Raum, der Schlafzimmer, Wohnzimmer, Eßzimmer in einem war und dank einem Gaskocher auch als Küche diente, lebte Miss Cecilia Williams. So ärmlich die Umgebung auch war, hatte sie es dennoch zuwege gebracht, ihr eine persönliche Note zu verleihen. An den nüchternen hellgrauen Wänden hingen einige Reproduktionen: Dante, der auf einer Brücke Beatrice trifft, zwei Aquarelle von Venedig und Botticellis <Primavera>; auf einer niederen Kommode standen mehrere verblaßte Fotografien. Der Teppich war abgetreten, die billigen Möbel abgenutzt. Es war offensichtlich, daß Cecilia Williams von fast nichts lebte. Hier gab es kein Roastbeef, das war das Schweinchen, das keines bekommen hatte.