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Klar und beharrlich wiederholte Miss Williams ihre Frage: «Darf ich wissen, wozu ich Ihnen von meinen Erinnerungen an den Fall Crale erzählen soll?»

Miss Williams war eine höchst erfolgreiche Erzieherin, und sie besaß Autorität. Sie zog es überhaupt nicht in Erwägung, daß man ihr nicht gehorchen könnte, und so fiel es schwer, sie anzulügen. Daher erzählte Poirot ihr nichts von einem Buch über frühere Mordfälle, sondern erklärte schlicht und einfach, warum Carla Lemarchant ihn aufgesucht hatte. Die ältliche kleine Dame in dem einfachen, sauberen Kleid hörte aufmerksam zu und sagte schließlich: «Es interessiert mich sehr, zu hören, was aus dem Kind geworden ist.»

«Sie ist eine reizende junge Dame mit viel Mut und Energie.»

«Sehr gut», bemerkte Miss Williams kurz. «Und sie ist hartnäckig und setzt ihren Willen durch.» Nachdenklich fragte Miss Williams : «Hat sie künstlerische Interessen?»

«Ich glaube nicht.»

«Gott sei Dank!» sagte sie trocken. Aus ihrem Ton war ihre Einstellung zu Künstlern klar zu erkennen. «Demnach gleicht sie mehr ihrer Mutter als ihrem Vater.»

«Das ist möglich. Das werden Sie selbst beurteilen, wenn Sie sie sehen werden.»

«Das möchte ich sehr gerne. Es ist immer interessant zu sehen, was aus einem Kind geworden ist.»

«Sie war noch sehr klein, als Sie sie zuletzt sahen?»

«Fünfeinhalb Jahre. Ein reizendes Kind, vielleicht etwas zu ruhig, zu nachdenklich. Sie konnte sich stundenlang allein beschäftigen. Sie war sehr natürlich und nicht verwöhnt.»

«Ein Glück, daß sie noch so klein war», sagte Poirot. «Ja. Wäre sie älter gewesen, hätte diese Tragödie für sie schlimme Auswirkungen haben können.»

«Trotzdem war es ungünstig für sie, so klein sie auch war; sie wurde doch von einem Tag zum andern in eine andere Umgebung verpflanzt, war von Geheimnistuerei und Ausflüchten umgeben. So etwas spürt doch ein Kind.»

«Die Auswirkungen sind vielleicht weniger schädlich gewesen, als Sie denken», erwiderte Miss Williams nachdenklich. «Bevor wir das Thema Carla Lemarchant verlassen, möchte ich Sie etwas fragen. Wenn jemand es mir erklären kann, dann Sie.»

«Ja?»

«Es ist eine Kleinigkeit, nur ein Detail, das ich nicht klar definieren kann. Jedesmal, wenn ich irgend jemandem gegenüber das Kind erwähne, erfolgt eine überraschte, verschwommene Antwort, als hätte die betreffende Person die Existenz des Kindes völlig vergessen. Und das ist nicht normal. Ein Kind ist doch eine wichtige Persönlichkeit, etwas, um das sich eigentlich alles drehen müßte. Amyas Crale mag seine Gründe gehabt haben, seine Frau zu verlassen oder nicht zu verlassen, aber wenn eine Ehe auseinandergeht, stellt das Kind doch immer einen wichtigen Faktor dar. In diesem Falle schien das Kind überhaupt nicht zu zählen, und das kommt mir so merkwürdig vor.»

«Sie haben den wunden Punkt berührt, Monsieur Poirot, Sie haben vollkommen recht. Und das ist mit einer der Gründe, warum ich vorhin sagte, daß Carlas Verpflanzung in eine fremde Umgebung in mancher Hinsicht gut für sie war. Später hätte sie vielleicht darunter gelitten, daß in dem elterlichen Hause etwas fehlte.» Miss Williams beugte sich vor und fuhr langsam, bedacht fort: «In meinem Beruf habe ich natürlich das Problem Eltern-Kind von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachten können. Viele Kinder - die meisten, möchte ich sagen - leiden darunter, daß die Eltern sich zu sehr um sie kümmern, sie werden mit zuviel Liebe überschüttet, zu sehr umsorgt. Unbewußt fühlt sich das Kind deshalb unbehaglich und sucht, sich den Eltern zu entziehen, um unbeobachtet und frei zu sein. Besonders wenn es sich um ein einziges Kind handelt, ist das der Fall, und natürlich treiben die Mütter es am schlimmsten. Die Auswirkung auf die Ehe ist häufig unglücklich. Der Mann nimmt es übel, erst an zweiter Stelle zu kommen; er sucht Trost und Liebe woanders, und früher oder später kommt es zur Scheidung. Das beste für ein Kind ist meiner Überzeugung nach das, was ich als gesunde Vernachlässigung von seiten beider Eltern bezeichnen möchte. Das ergibt sich bei kinderreichen Familien mit wenig Geld häufig von selbst. Die Mutter hat einfach keine Zeit, sich zu sehr um die einzelnen Kinder zu kümmern. Die Kinder merken sehr wohl, daß die Mutter sie liebt, ohne von allzu vielen Äußerungen dieser Liebe behelligt zu werden.

Es kommt aber auch vor, daß ein Ehepaar sich selber so genügt, so ineinander aufgeht, daß die Frucht dieser Ehe, das Kind, für sie kaum vorhanden ist. Unter diesen Umständen fühlt sich ein Kind vernachlässigt und verlassen. Wohlverstanden, das Kind muß nicht in jeder Beziehung vernachlässigt sein. Mrs. Crale war zum Beispiel das, was man eine ausgezeichnete Mutter nennt, sie sorgte vorbildlich für Carlas Wohl, für ihre Gesundheit, spielte mit ihr, wie es sich gehört, und war stets lieb und fröhlich mit ihr. Aber im Grund ging Mrs. Crale völlig in ihrem Mann auf; sie lebte nur in ihm und für ihn. Und das ist meiner Meinung nach die Rechtfertigung dessen, was sie schließlich tat.»

«Sie meinen, daß die beiden eher Liebhaber und Geliebte waren als Ehemann und Ehefrau?»

«Richtig», antwortete Miss Williams. «Er liebte sie ebenso wie sie ihn?»

«Sie liebten sich sehr, aber er war eben ein Mann.» Die alte Jungfer, die lebenslange Gouvernante, entpuppte sich als eine wilde Frauenrechtlerin; für sie war der Mann der Feind!

«Sie halten nichts von Männern?» erkundigte sich Poirot. «Die Männer haben alle Vorteile in dieser Welt», antwortete sie trocken, «und ich hoffe nur, daß das nicht immer so sein wird.»

Poirot zog vor, darüber nicht zu diskutieren. Er fragte: «Sie mochten Amyas Crale nicht?»

«Das kann man wohl sagen. Ich fand sein Verhalten schändlich, und wenn ich seine Frau gewesen wäre, hätte ich ihn verlassen. Es gibt Dinge, die keine Frau dulden darf.»

«Aber Mrs. Crale duldete sie?»

«Ja.»

«Und Sie hielten das für falsch?»

«Jawohl. Eine Frau soll eine gewisse Selbstachtung haben und sich nicht demütigen lassen.»

«Haben Sie das je zu Mrs. Crale gesagt?»

«Natürlich nicht, das stand mir nicht zu. Ich wurde dafür bezahlt, Angela zu erziehen, nicht dafür, Mrs. Crale ungebetene Ratschläge zu erteilen. Hätte ich es getan, wäre es eine Impertinenz von mir gewesen.»

«Sie mochten Mrs. Crale?»

«Ich hatte Mrs. Crale sehr gern.» Die sachliche Stimme wurde sanfter, wärmer, mitleidig. «Ich hatte sie sehr gern, und sie tat mir sehr leid.»

«Und Ihr Zögling - Angela Warren?»

«Sie war ein höchst interessantes Mädchen - eine der interessantesten Schülerinnen, die ich je hatte. Hochintelligent, undiszipliniert, jähzornig, in vieler Hinsicht unlenkbar, aber ein wertvolles Menschenkind. Ich war stets der Überzeugung, daß sie es zu etwas bringen würde. Und das hat sie. Haben Sie ihr Buch über die Sahara gelesen? Und sie hat auch diese hochinteressanten Ausgrabungen im Fayum gemacht. Ja, ich bin sehr stolz auf Angela. Ich war nicht lange in Alderbury -zweieinhalb Jahre -, aber ich bilde mir ein, ihren Geist angeregt und ihr Interesse für Archäologie gefördert zu haben.»

«Ich hörte, daß man sie zwecks Weiterbildung in ein Internat schicken wollte», bemerkte Poirot. «Das müssen Sie doch bedauert haben.»

«Keineswegs, Monsieur Poirot, ich war sehr damit einverstanden. Angela war ein liebes Kind, ein wirklich liebes Kind, warmherzig und impulsiv, aber sie war auch ein schwieriges Kind, das heißt, sie war in einem schwierigen Alter.

Es gibt eine Zeit, da Mädchen ihrer selbst nicht sicher sind, da sie weder Kind noch Frau sind. In einem Moment war Angela vernünftig und reif, richtig erwachsen, im nächsten war sie völlig kindlich, verübte schlimme Streiche, war unverschämt und jähzornig. Wissen Sie, Mädchen in diesem Alter sind entsetzlich empfindlich. Sie nehmen alles übel und sind sehr rasch beleidigt. In diesem Stadium war Angela. Sie hatte Wutanfälle, sie konnte es nicht ertragen, geneckt zu werden, und brauste wegen jeder Kleinigkeit auf, oder sie war tagelang mürrisch, saß übelnehmerisch herum; dann wieder war sie übermütig, kletterte auf Bäume, tollte mit den Bauernjungen, weigerte sich, irgendeine Autorität anzuerkennen. Wenn ein Mädchen in dieses Stadium kommt, ist ein Internat das beste. Sie braucht die Anregung der Mitschülerinnen, die gesunde Disziplin einer Gemeinschaft, das hilft ihr, ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Die Familienverhältnisse waren für Angela keineswegs ideal. Mrs. Crale verwöhnte sie über alle Maßen, sie brauchte nur ein Wort zu sagen, und sofort stand Mrs. Crale für sie ein. Die Folge war, daß Angela glaubte, sie könne die Zeit und die Aufmerksamkeit ihrer Schwester völlig in Anspruch nehmen, und aus dieser Einstellung heraus ergaben sich natürlich Zusammenstöße mit Mr. Crale. Mr. Crale fand begreiflicherweise, daß er der Erste sein müsse, und bestand auf diesem Recht. Er hatte zwar Angela wirklich gern, sie waren gute Kameraden und balgten sich oft freundschaftlich miteinander, aber es gab auch Zeiten, da Mr. Crale es seiner Frau übelnahm, daß sie sich so sehr um Angela sorgte; er war wie alle Männer ein verwöhntes Kind und glaubte, alles müsse sich um ihn drehen. Wenn er mit Angela richtigen Krach bekam und seine Frau Angelas Partei ergriff, wurde er wütend, und umgekehrt wurde Angela wütend, wenn Mrs. Crale seine Partei ergriff. Das war dann der Anlaß, daß ihm Angela recht bösartige kindliche Streiche spielte. Er hatte die Angewohnheit, Getränke in einem Zug hinunterzuleeren, und einmal zum Beispiel schüttete sie einen Haufen Salz in sein Glas, woraufhin er einen Brechreiz und einen Wutanfall bekam. Was aber dem Faß den Boden ausschlug, war der Vorfall mit den Schnecken - er hatte eine krankhafte Aversion gegen Schnecken, und sie hatte ihm einige ins Bett gesteckt. Er geriet außer sich vor Wut und erklärte, daß sie in ein Internat müsse. Er wolle nunmehr von solchen Dingen verschont bleiben. Angela war entsetzlich wütend; obwohl sie ein- oder zweimal ausdrücklich erklärt hatte, in ein Internat gehen zu wollen, tat sie nun, als geschehe ihr schweres Unrecht. Mrs. Crale wollte nicht, daß sie fortginge; sie ließ sich aber überreden, und ich glaube, hauptsächlich auf meinen Rat hin, denn ich sagte ihr, daß es zu Angelas Bestem sei. So wurde beschlossen, daß Angela zum Herbstquartal nach Helston geschickt würde, einem ausgezeichneten Mädcheninternat an der Südküste. Doch Mrs. Crale war höchst unglücklich darüber, und Angela nahm es Mr. Crale sehr übel. Ihr Groll war nicht wirklich ernst zu nehmen, aber er kam zu anderen Dingen hinzu, die sich in dem Sommer im Haus abspielten.»