«Kann man das von einem Menschen mit Sicherheit sagen?»
«In den meisten Fällen wahrscheinlich nicht. Ich gebe zu, daß die menschliche Bestie voller unberechenbarer Faktoren ist. Aber in Carolines Fall gibt es für meine Gewißheit besondere Gründe, Gründe, über die ich besser unterrichtet bin als alle andern.» Sie deutete auf ihre entstellte Wange. «Sehen Sie sich das an. Wahrscheinlich haben Sie schon davon gehört?» Poirot nickte.
«Das hat Caroline getan, und darum weiß ich bestimmt, daß sie keinen Mord beging.»
«Für die meisten Menschen wäre das kein überzeugendes Argument.»
«Im Gegenteil. Es wurde sogar als Beweis gegen sie benutzt, glaube ich, als Beweis, wie unbeherrscht und heftig sie sei. Weil sie mich als Baby schwer verletzte, behauptete die Anklage, sie wäre auch imstande, einen treulosen Gatten zu vergiften.»
«Ich verstehe den Unterschied. Ein Wutausbruch ist etwas anderes, als sich Gift zu beschaffen und es am nächsten Tag zu verabfolgen.»
Angela machte eine ärgerliche Handbewegung. «Das meine ich nicht, aber ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Stellen Sie sich folgendes vor: ein normaler, liebevoller und gutartiger Mensch ist eifersüchtig veranlagt. In seinen jungen Jahren, wo Selbstbeherrschung noch schwerfällt, begeht er in einem Wutanfall eine Tat, die beinahe zum Mord wird. Stellen Sie sich den furchtbaren Schock, das Entsetzen, die Gewissenbisse vor, die ihn daraufhin packen. Ein sensibler Mensch wie Caroline vergißt dieses Entsetzen nie, er bleibt stets von Gewissensbissen gepeinigt. Ich weiß nicht, ob ich mir dessen schon damals bewußt war, aber rückblickend weiß ich es. Caroline wurde stets verfolgt von dem Gedanken an das, was sie mir zugefügt hatte. Sie fand keinen Frieden, alle ihre Taten wurden davon beeinflußt, und so ist ihre Haltung mir gegenüber zu erklären.
Für mich war nichts gut genug, ich kam immer zuerst, die meisten Streitigkeiten, die sie mit Amyas hatte, entstanden meinetwegen. Ich war eifersüchtig auf ihn und spielte ihm allerhand Streiche. Ich stibitzte Katzensaft, um ihn in sein Bier zu schütten, und setzte ihm einmal einen Igel ins Bett. Aber Caroline verteidigte mich immer. Das war natürlich schlecht für mich; ich wurde auf jede Weise entsetzlich verwöhnt. Aber das tut nichts zur Sache, wir sprechen ja über Caroline. Im Gedanken an ihre frühere Tat hatte sie ihr Leben lang eine panische Angst davor, noch einmal etwas Ähnliches zu begehen. Sie war ständig auf der Hut, beobachtete sich dauernd, damit nicht noch einmal so etwas vorkommen könnte. Instinktiv reagierte sie ihre Wut durch heftige Worte ab. Das war psychologisch richtig, denn wenn sie sich in Worten Luft machte, war sie weniger in Gefahr, sich in Taten auszutoben, und die Methode bewährte sich. Darum sagte sie oft Dinge - ich habe es selbst gehört - wie: <Am liebsten würde ich den Soundso in Stücke schneiden und in Öl braten!> Oder sie sagte zu mir oder zu Amyas: «Wenn du mich weiter so ärgerst, schlage ich dich tot!> Ebenso brach sie leicht einen heftigen Streit vom Zaun. Sie wußte sehr gut, wie heftig sie von Natur aus war, und so schaffte sie sich dieses Ventil. Amyas und sie hatten häufig direkt groteske Auseinandersetzungen.»
Hercule Poirot nickte. «Bei der Verhandlung wurde dies als Beweis gegen sie angeführt.»
«Solche Beweise sind stupid und irreführend», sagte Angela. «Natürlich stritten sich die beiden. Natürlich warfen sie sich die schlimmsten Ausdrücke an den Kopf, aber kein Mensch wußte, daß sie diese Szenen genossen. Die meisten Männer hassen Szenen, sie wollen ihre Ruhe haben; aber Amyas war ein Künstler, er liebte es, zu brüllen, die fürchterlichsten Drohungen auszustoßen und ausfallend zu werden. Es war, als ob er Dampf abließe. Er war einer der Männer, die auf der Suche nach einem verlorenen Kragenknopf brüllen, daß das ganze Haus zittert. Es klingt merkwürdig, aber Amyas und Caroline fanden diese dauernden Krache und Versöhnungen herrlich!» Sie machte eine ärgerliche Geste. «Wenn man mich doch nur nicht fortgeschickt hätte, wenn man mich nur als Zeugin vernommen hätte! Ich hätte dies dem Gericht klarmachen können.» Sie zuckte die Achseln. «Aber ich nehme an, man hätte mir nicht geglaubt. Außerdem hatte ich es damals noch nicht so klar erkannt wie jetzt. Ich hatte noch nicht alles so genau durchgedacht und hätte es bestimmt nicht in Worte kleiden können.» Sie blickte Poirot an. «Verstehen Sie mich?» Er nickte lebhaft. «Voll und ganz, und Sie haben recht. Es gibt Menschen, denen es langweilig ist, wenn sie sich vertragen; sie benötigen zu ihrem Wohlbehagen das Stimulans eines Kraches.»
«Richtig.»
«Miss Warren, was empfanden Sie damals?» Sie seufzte. «Ich war entsetzt, verzweifelt, völlig durcheinander, glaube ich. Es kam mir wie ein Alpdruck vor. Caroline wurde bald verhaftet, ich glaube schon nach drei Tagen. Ich erinnere mich an meine Empörung, an meine dumpfe Wut und natürlich an meinen kindlichen Glauben, daß es nur ein Irrtum sei, der bald aufgeklärt würde. Caroline machte sich hauptsächlich meinetwegen Sorgen; sie wollte, daß ich von allem ferngehalten würde. Sie beauftragte Miss Williams, mich sofort zu Verwandten zu bringen; und die Polizei erlaubte es. Als dann feststand, daß ich nicht als Zeugin vernommen werden sollte, schickte man mich sofort in Ausland in eine Schule. Ich sträubte mich dagegen, aber man sagte mir, daß sich Caroline meinetwegen schwere Sorgen mache und es eine Erleichterung für sie sei, wenn ich ginge.» Sie machte eine kleine Pause. «So ging ich nach München. Und dort erfuhr ich das Urteil. Man ließ mich nie zu Caroline, sie wollte es nicht. Das ist das einzige Mal, glaube ich, daß sie kein Verständnis für mich aufbrachte.»
«Das können Sie nicht sagen, Miss Warren. Auf ein empfindsames junges Mädchen könnte der Besuch eines geliebten Menschen, der im Gefängnis sitzt, einen entsetzlichen Eindruck machen.»
Sie stand auf. «Nach dem Urteil schrieb sie mir einen Brief. Ich habe ihn noch keinem Menschen gezeigt, aber Sie sollen ihn lesen. Es wird dazu beitragen, daß Sie Caroline verstehen. Wenn Sie wollen, können Sie ihn auch Carla zeigen.» Sie ging zur Tür, dann sagte sie: «Kommen Sie bitte mit, drüben habe ich ein Porträt von Caroline.»
Zum zweitenmal betrachtete nun Poirot ein Portrait. Als Kunstwerk war das Gemälde mittelmäßig, aber Poirot betrachtete es dennoch mit großem Interesse. Der künstlerische Wert interessierte ihn in diesem Fall nicht.
Er sah ein schmales ovales Gesicht mit einem sanften, leicht schüchternen Ausdruck; ein gefühlvolles Gesicht, etwas unsicher, von dem eine große innere Schönheit ausstrahlte. In ihren Zügen zeugte nichts von der Kraft und Lebendigkeit ihrer Tochter; zweifellos hatte Carla Lemarchant ihre Energie und Daseinsfreude von Amyas Crale geerbt. Ihre Mutter war eine weniger positive Natur, und nun verstand Poirot, warum ein phantasievoller Mensch wie Quentin Fogg sie nicht hatte vergessen können.
Angela hatte inzwischen den Brief hervorgeholt und sagte: «Lesen Sie nun, nachdem Sie sie gesehen haben, den Brief.» Poirot entfaltete ihn bedächtig und las, was Caroline Crale vor sechzehn Jahren geschrieben hatte:
Mein Liebling, meine kleine Angela,
Du wirst schlechte Nachrichten hören und wirst traurig darüber sein, aber ich möchte Dir mitteilen, daß alles gut ist. Ich habe Dir nie etwas vorgelogen und tue es auch jetzt nicht, wenn ich Dir sage, daß ich wirklich glücklich bin; ich empfinde alles als richtig und fühle einen Frieden wie noch nie. Es ist alles gut, Liebling, es ist alles gut. Sieh zu, daß Du im Leben vorankommst, daß Du Erfolge erzielst; ich weiß, daß Du fähig bist. Blicke nicht zurück und gräme Dich meinetwegen nicht. Es ist alles gut, Liebling, ich gehe zu Amyas. Ich bin ganz sicher, daß wir bald beisammen sein werden; ich könnte nicht ohne ihn leben. Tu mir den einen Gefallen: sei glücklich. Ich sage Dir nochmals, ich bin glücklich. Jeder muß seine Schulden zahlen. Es ist herrlich, Frieden zu empfinden. Deine Dich liebende Schwester