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Caroline.

Nachdem Poirot den Brief zweimal gelesen hatte, gab er ihn zurück und sagte: «Das ist ein wirklich schöner Brief, Mademoiselle, und er ist sehr bemerkenswert, sehr bemerkenswert.»

«Caroline war eine bemerkenswerte Persönlichkeit.»

«Ja, ein außergewöhnlicher Geist...» stimmte er zu. «Sie halten diesen Brief für den Beweis ihrer Unschuld?»

«Selbstverständlich!»

«Das geht aber nicht deutlich daraus hervor.»

«Weil Caroline wußte, daß ich sie auch nicht im Traum für schuldig hielt!»

«Vielleicht... vielleicht... aber man könnte ihn auch anders verstehen, in dem Sinne, daß sie schuldig war und durch das Büßen ihrer Schuld Frieden fand.»

Der Brief paßt zu ihrem Verhalten in der Verhandlung, dachte er, und zum erstenmal tauchten Zweifel an ihrer Unschuld in ihm auf. Bisher hatten alle Beweise gegen Caroline Crale gesprochen, und jetzt stimmten sogar ihre eigenen Worte gegen sie. Andererseits sprach die unerschütterliche Überzeugung Angela Warrens für sie; Angela hatte sie zweifellos gut gekannt. Aber konnte ihre Oberzeugung nicht auf der fanatischen Treue eines Mädchens zu der geliebten älteren Schwester beruhen? Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Angela: «Nein, Monsieur Poirot, ich weiß, daß Caroline unschuldig war.»

«Ich möchte Ihren Glauben um alles in der Welt nicht erschüttern, aber wir wollen praktisch sein. Sie sagen, Ihre Schwester sei unschuldig. Wie ist es dann also geschehen?» Angela nickte nachdenklich und erklärte: «Ich gebe zu, daß das schwer zu sagen ist. Ich nehme an, daß Carolines Behauptung, Amyas habe Selbstmord begangen, stimmt.»

«Sieht ihm das ähnlich?»

«Nein.»

«Aber Sie halten es nicht für unmöglich?»

«Weil, wie ich vorhin sagte, die meisten Menschen unmögliche Dinge tun, Dinge, die scheinbar gar nicht zu ihrem Charakter passen, in Wirklichkeit aber doch.»

«Sie kannten Ihren Schwager gut?»

«Ja, aber nicht so gut, wie ich Caroline kannte. Es kommt mir phantastisch vor, daß Amyas Selbstmord begangen haben soll; für ausgeschlossen halte ich es jedoch nicht. Er muß es getan haben.»

«Sehen Sie keine andere Möglichkeit?»

Angela nahm diese Frage ruhig auf. «Oh, ich verstehe... daran habe ich noch nie gedacht. Sie meinen, jemand anderes könnte ihn getötet haben? Daß es ein vorbedachter, kaltblütiger Mord war?»

«Das wäre doch möglich?»

«Ja, möglich wäre es... aber es ist höchst unwahrscheinlich.»

«Unwahrscheinlicher als ein Selbstmord?»

«Das ist schwer zu sagen.. Aber wen sollte man verdächtigen? Und auch jetzt noch, wenn ich zurückdenke...»

«Trotzdem wollen wir einmal die Möglichkeit erörtern. Wer könnte dafür in Frage kommen?»

«Lassen Sie mich überlegen. Also ich habe ihn nicht getötet, und diese Elsa wahrscheinlich auch nicht, denn sie war wahnsinnig vor Wut, als er starb. Wer war noch da? Meredith Blake? Er liebte Caroline sehr und war von jeher der brave Hausfreund. Das hätte ein Grund für ihn sein können. In einem Roman hätte er wahrscheinlich Amyas aus dem Weg geschafft, um Caroline heiraten zu können. Doch dieses Ziel hätte er auch erreicht, wenn sich Amyas mit Elsa auf und davongemacht hätte; dann hätte er Caroline trösten können. Außerdem kann ich mir Meredith nicht als Mörder vorstellen. Er ist zu sanft, zu vorsichtig. Und wer war noch da?»

«Miss Williams... Philip Blake...»

Angela lächelte flüchtig. «Miss Williams? Miss Williams war die verkörperte Rechtlichkeit.» Sie machte eine kleine Pause. «Allerdings liebte sie Caroline, sie hätte alles für sie getan; und sie haßte Amyas. Sie ist eine begeisterte Frauenrechtlerin und kann Männer nicht ausstehen. Aber wäre das ein Grund für einen Mord? Bestimmt nicht.»

«Kaum.»

Angela fuhr fort: «Philip Blake?» Sie schwieg einige Sekunden, dann sagte sie ruhig: «Wenn es überhaupt jemand zuzutrauen wäre, dann ihm.»

«Das ist ja sehr interessant, Miss Warren. Darf ich fragen, weshalb?»

«Aus    keinem bestimmten Grund. Aber soweit ich mich erinnere, besaß er eine ziemlich begrenzte Phantasie.»

«Und Sie meinen, eine begrenzte Phantasie könnte jemand zu einem Mord verleiten?»

«Es könnte dazu führen, auf eine primitive Art Schwierigkeiten aus dem Weg räumen zu wollen. Menschen seiner Art empfinden eine gewisse Befriedigung bei Gewalttaten.»

«Ja... ich glaube, Sie haben recht... es ist jedenfalls ein einleuchtendes Argument. Dennoch genügt es nicht. Was für einen Grund könnte Philip Blake gehabt haben?» Stirnrunzelnd blickte sie zu Boden und schwieg. «Er war doch Amyas Crales bester Freund», fuhr Poirot fort. Sie nickte. «Sie denken über etwas nach, Miss Warren, über etwas, das Sie mir nicht gesagt haben. Waren die beiden Männer vielleicht Rivalen? Wegen Elsa?» Sie schüttelte den Kopf. «Philip war nicht in Elsa verliebt.»

«Was könnte es denn sonst gewesen sein?» Langsam erklärte sie: «Manchmal fällt einem nach vielen Jahren etwas wieder ein. Hören Sie! Vor einiger Zeit wohnte ich in Paris in einem Hotel. Als ich eines Abends durch den Korridor ging, öffnete sich eine Zimmertür, und eine Bekannte von mir kam heraus. Es war nicht ihr Zimmer, ich konnte ihr das vom Gesicht ablesen. Und dabei fiel mir ein, daß ich den gleichen Ausdruck einmal auf Carolines Gesicht bemerkt hatte, als ich sie eines Abends in Alderbury aus Philip Blakes Zimmer kommen sah.» Sie beugte sich vor und ließ Poirot nicht zu Worte kommen. «Ich habe es damals natürlich nicht begriffen. Ich wußte zwar schon einiges, wie alle Mädchen meines Alters, aber ich brachte es nicht mit der Wirklichkeit in Verbindung. Ich fand nichts dabei, daß Caroline aus Philip Blakes Schlafzimmer kam; sie hätte ebensogut aus Miss Williams' oder aus meinem Zimmer kommen können. Doch mir fiel ihr Gesichtsausdruck auf, ein merkwürdiger Ausdruck, der mir fremd vorkam. Die Bedeutung habe ich aber erst erkannt, als ich an jenem Abend in Paris auf dem Gesicht meiner Bekannten den gleichen Ausdruck sah.»

«Höchst erstaunlich, Miss Warren», sagte Poirot langsam. «Ich hatte den Eindruck, daß Philip Blake von jeher Ihre Schwester nicht leiden konnte.»

«Das weiß ich, und darum kann ich es mir auch nicht erklären.» Poirot nickte langsam. Bei seiner Unterredung mit Philip Blake hatte er schon das Gefühl gehabt, daß etwas nicht stimme; diese übertriebene Feindseligkeit gegen Caroline war ihm nicht ganz natürlich vorgekommen. Und Worte aus seiner Unterhaltung mit Meredith Blake kamen ihm in den Sinn: «Er war sehr wütend, als Amyas heiratete... über ein Jahr lang ging er nicht hin...»

War Philip vielleicht schon immer in Caroline verliebt gewesen? Und hatte sich seine Liebe, als sie Amyas wählte, in Erbitterung, in Haß verwandelt?

Philip war zu heftig gewesen, zu parteiisch. Poirot stellte ihn sich wieder vor: der fröhliche, reiche Mann, der eifrige Golfspieler, sein schönes Haus. Was hatte Philip Blake vor sechzehn Jahren wirklich empfunden?

Angela unterbrach seine Überlegungen. «Ich verstehe es nicht. Wissen Sie, ich habe keine Erfahrungen in der Liebe... ich habe keine Gelegenheit dazu gehabt. Ich teilte Ihnen meine Beobachtung lediglich mit, weil sie vielleicht wichtig sein könnte.»

ZWEITES BUCH 

1 Bericht von Philip Blake

Sehr geehrter Monsieur Poirot,

ich erfülle hiermit mein Versprechen und sende Ihnen beiliegend einen Bericht über die Ereignisse bei Amyas Crales Tod. Ich betone nochmals, daß mich nach so vielen Jahren mein Gedächtnis trügen kann, aber ich habe mich bemüht, alles nach bestem Wissen und Gewissen niederzuschreiben. Mit besten Grüßen