Ihr
Philip Blake.
Aufzeichnungen über die Ereignisse, die zu Amyas Crales Ermordung führten.
Meine Freundschaft mit dem Verstorbenen geht auf unsere Kindheit zurück. Wir waren Gutsnachbarn, und unsere Eltern waren befreundet. Amyas war zwei Jahre älter als ich. Als Kinder spielten wir in den Ferien zusammen, wir gingen aber nicht in dieselbe Schule.
Auf Grund meiner langen Freundschaft mit ihm fühle ich mich besonders geeignet, mich über seinen Charakter und seine Lebensanschauung auszulassen. Vorausschicken möchte ich, daß für jeden Menschen, der Amyas Crale gut kannte, die Behauptung, er habe Selbstmord begangen, einfach lächerlich ist. Crale hätte sich nie das Leben genommen, dazu liebte er es zu sehr. Die Behauptung des Verteidigers, daß er, von Gewissensbissen gepeinigt, sich vergiftet habe, ist einfach unsinnig, denn Crale machte sich aus nichts ein Gewissen. Er und seine Frau standen sehr schlecht miteinander, und ich glaube nicht, daß es ihm Skrupel bereitet hätte, eine für ihn unglückliche Ehe aufzugeben. Er war bereit, seine Frau und das Kind finanziell sicherzustellen, und ich bin überzeugt, er hätte das sehr großzügig getan. Er war ein großzügiger Mensch, er war warmherzig und liebenswert. Er war nicht nur ein großer Künstler, er war auch ein Mann, der von seinen Freunden geliebt wurde; und soviel ich weiß, hatte er keine Feinde. Auch Caroline Crale kannte ich seit vielen Jahren, und zwar bereits vor ihrer Heirat, da sie oft nach Alderbury zu Besuch kam. Sie war etwas hysterisch und neigte zu Wutausbrüchen. Sie galt als eine reizvolle Erscheinung, aber es war bestimmt schwer, mit ihr zu leben.
Aus ihrer Liebe zu Amyas machte sie von Anfang an kein Hehl, ich glaube aber nicht, daß Amyas sie ernsthaft liebte. Da sie jedoch oft zusammenkamen und sie, wie ich schon sagte, reizvoll war, verlobten sie sich schließlich. Amyas' Freunde waren nicht sehr begeistert von dieser Ehe; sie fanden, Caroline passe nicht zu ihm.
So bestand in den ersten Jahren eine gewisse Spannung zwischen Crales Frau und seinen Freunden, aber Amyas dachte als treuer Freund nicht daran, wegen seiner Frau seine Freunde aufzugeben. Nach einigen Jahren war jedoch unsere Beziehung wieder ebenso herzlich wie zuvor, und ich war ein häufiger Gast in Alderbury. Ich möchte noch hinzufügen, daß ich der Taufpate des Kindes bin, was beweist, daß Amyas mich weiterhin für seinen besten Freund hielt, und dies ermächtigt mich, für einen Menschen zu sprechen, der selbst dazu nicht mehr in der Lage ist.
Nun zu den Ereignissen: Aus meinem alten Tagebuch ersehe ich, daß ich fünf Tage vor dem Mord in Alderbury eintraf, das heißt also am 13. September. Ich bemerkte sofort eine gewisse Spannung. Miss Elsa Greer, die von Amyas gemalt wurde, weilte ebenfalls im Haus.
Ich sah Miss Greer zum erstenmal, hatte aber schon viel über sie gehört. Einen Monat zuvor hatte Amyas mir von ihr vorgeschwärmt. Er habe ein herzliches Mädchen kennengelernt, erzählte er, und er sprach so enthusiastisch von ihr, daß ich im Scherz zu ihm sagte: «Nimm dich in acht, alter Knabe, daß du nicht wieder den Kopf verlierst.» Aber er erwiderte, er wolle das Mädchen nur malen, er habe kein persönliches Interesse an ihr.
Ich glaubte es ihm nicht, vielmehr war ich der Ansicht, daß er bisher noch nie so verliebt gewesen war. Auch von anderer Seite hörte ich das gleiche, und man fragte sich, was seine Frau wohl dazu sage. Viele meinten, sie sei ja an Kummer gewöhnt, während andere die Ansicht vertraten, sie sei die verkörperte Eifersucht und habe deswegen mit Crale einen Krach nach dem andern.
Ich erwähne dies alles nur, um einen Begriff von der im Hause herrschenden Atmosphäre zu geben.
Ich fand das Mädchen außerordentlich hübsch, und ich muß gestehen, daß Carolines Eifersucht mir ein gewisses boshaftes Vergnügen bereitete.
Amyas war weniger unbekümmert als sonst. Er sagte zwar nichts, aber ich, der ihn so gut kannte, merkte an gewissen Zeichen, an Wutausbrüchen, Grübeleien und so weiter, wie sehr es ihn diesmal gepackt hatte. Obwohl er stets launenhaft war, wenn er arbeitete, konnte man seine ständigen Stimmungswechsel diesmal nicht nur auf seine Malerei zurückführen. Als ich kam, begrüßte er mich mit den Worten: «Gott sei Dank, daß du gekommen bist, Phil. Mit vier Frauen in einem Haus zusammen leben zu müssen ist eine Hölle. Die bringen mich noch ins Irrenhaus.»
Wie ich schon sagte, war Caroline offensichtlich eifersüchtig. In höflicher, verschleierter Form sagte sie Elsa die unangenehmsten Dinge, während Elsa ganz offen unverschämt zu ihr war. Elsa fühlte sich obenauf und, durch keinerlei gute Kinderstube belastet, kannte sie wenig Zurückhaltung. Um dieser ungemütlichen Atmosphäre zu entgehen, gab sich Amyas, wenn er nicht malte, die meiste Zeit mit Angela ab; obwohl er sie gern mochte, neckte und stritt er sich ständig mit ihr. Die Folge davon war, daß sogar diese beiden mehrere Male ernsthaft aneinandergerieten. Dis vierte weibliche Wesen im Haus war die Gouvernante. «Eine böse Hexe», sagte Amyas von ihr. «Sie haßt mich wie Gift. Sie sitzt mit verkniffenen Lippen da und mißbilligt alles, was ich tue.» Dann fügte er hinzu: «Zum Teufel mit all den Weibern! Wenn ein Mann Ruhe haben will, darf er sich nicht mit Weibern einlassen.»
«Du hättest nicht heiraten dürfen», entgegnete ich, «du bist nicht der Mann dazu.»
Er erwiderte, daß es jetzt zu spät sei, darüber zu sprechen, aber zweifellos würde Caroline froh sein, wenn sie ihn los würde. Das war das erste Anzeichen, daß etwas Ungewöhnliches in der Luft lag.
«Was ist eigentlich los», fragte ich, «ist die Geschichte mit der schönen Elsa wirklich ernst?»
Stöhnend antwortete er: «Sie ist doch entzückend, nicht wahr? Manchmal wünsche ich, ich hätte sie nie gesehen.»
«Du mußt dich zusammennehmen, alter Knabe», ermahnte ich ihn. «Du darfst dich nicht wieder an eine Frau binden.» Lachend erwiderte er: «Du hast gut reden. Ich kann nun einmal Frauen nicht in Ruhe lassen, und wenn ich es könnte, würden sie mich nicht in Ruhe lassen.» Achselzuckend fuhr er fort: «Es hat keinen Zweck, darüber zu reden, es wird schon alles wieder gut werden. Aber du mußt doch zugeben, daß das Bild gut ist.»
Obwohl ich von Malerei nur wenig verstehe, konnte selbst ich erkennen, daß das Bild, das er von Elsa malte, ein Meisterwerk war.
Bei der Arbeit war Amyas ein völlig anderer Mensch, er knurrte und stöhnte und schimpfte zwar und warf zuweilen wütend den Pinsel fort, aber in Wirklichkeit fühlte er sich unendlich glücklich. Erst wenn er zu den Mahlzeiten nach Hause kam, bedrückte ihn die dort herrschende feindselige Atmosphäre. Ganz schlimm wurde es am 17. September. Die Stimmung beim Mittagessen war peinlich gewesen. Elsa hatte sich unmöglich aufgeführt; man kann ihr Benehmen nur als unverschämt bezeichnen. Sie ignorierte Caroline völlig, sprach nur mit Amyas, als wäre sie allein mit ihm im Zimmer. Caroline hatte ungezwungen und vergnügt mit uns anderen gesprochen und überhörte geschickt alle beleidigenden Äußerungen Elsas. Der Ausbruch kam, als wir im Wohnzimmer Kaffee tranken. Ich sprach über eine Holzplastik, die dort stand, und Caroline bemerkte: «Die hat ein junger norwegischer Bildhauer gemacht. Amyas und ich schätzen ihn sehr und werden ihn vielleicht im nächsten Sommer besuchen.» Diese kühle, ihre und ihres Gatten Zusammengehörigkeit betonende Äußerung war zuviel für Elsa, sie konnte keine Herausforderung hinnehmen. Nach einigen Sekunden sagte sie klar, betont: «Das hier wäre eigentlich ein schönes Zimmer, wenn man es richtig einrichtete; jetzt ist es viel zu vollgestopft. Wenn ich erst hier wohne, werde ich den ganzen Trödelkram rauswerfen und nur ein paar gute Möbelstücke drin lassen.» Zu mir gewandt fragte sie: «Finden Sie das nicht auch besser?»
Ehe ich antworten konnte, fragte Caroline mit sanfter Stimme, die aber einen drohenden Unterton hatte: «Haben Sie die Absicht, das Haus zu kaufen, Elsa?»