Ich hielt sie fest, und dann griff Miss Williams ein. Sie benahm sich fabelhaft, das muß ich sagen. In wenigen Sekunden hatte sie Elsa zur Vernunft gebracht. Sie herrschte sie an und erklärte ihr, dieses Getue sei unerträglich. Sie war ein Unmensch, diese Miss Williams, aber sie hatte Erfolg. Elsa wurde ruhig, sie keuchte und zitterte nur noch.
Und Caroline stand ganz ruhig da, wie betäubt. Aber sie war nicht betäubt, ihre Augen verrieten sie. Sie war auf der Hut und beobachtete alles. Ich vermute, daß sie es nun doch mit der Angst zu tun bekommen hatte...
Ich trat zu ihr und sagte leise, so daß die andern es nicht hören konnten: «Du verdammte Mörderin, du hast meinen besten Freund umgebracht!»
Sie prallte zurück und stieß hervor: «Nein... nein... er... er hat es selbst getan...»
Ich blickte sie durchdringend an und sagte: «Das kannst du der Polizei erzählen.» Sie tat es, und die Polizei glaubte ihr nicht.
2 Bericht von Meredith Blake
Sehr geehrter Monsieur Poirot,
wie ich Ihnen versprach, sende ich Ihnen beiliegend einen Bericht über die tragischen Ereignisse, die sich vor sechzehn Jahren abgespielt haben. Ich habe nochmals eingehend über unsere kürzliche Unterhaltung nachgedacht und bin nach reiflicher Überlegung zur Überzeugung gelangt, daß Caroline Crale ihren Mann nicht vergiftet hat. Ich habe es nie glauben wollen, aber das Fehlen jeder anderen Erklärung und ihr eigenes Verhalten verleiteten mich dazu, die Meinung anderer Leute zu teilen und mich ebenfalls dahingehend zu äußern, daß außer ihr kein anderer Täter in Frage käme.
Ich schließe mich jetzt der These des Verteidigers an, daß Amyas Crale Selbstmord verübt hat, obwohl es, wenn man ihn gut kannte, höchst unwahrscheinlich, ja phantastisch anmutet. Ausschlaggebend für mich ist, daß Caroline selbst es glaubte. Sie kannte ja Amyas besser als wir alle, und wenn sie einen Selbstmord für möglich hielt, so muß es Selbstmord gewesen sein, trotz der Skepsis seiner Freunde.
Ich nehme an, daß selbst Amyas Crale so etwas wie ein Gewissen besaß, sich daher Vorwürfe machte, ja verzweifelt war über seine Exzesse, zu denen ihn sein ungestümes Temperament verleitet hatte; dies waren aber Dinge, über die nur seine Frau Bescheid wissen konnte. In jedem Menschen schlummern geheime Regungen, die irgendwann einmal zur Überraschung auch seiner besten Freunde ans Tageslicht kommen. Man entdeckt, daß ein hochgeachteter, scheinbar sittenstrenger Mann ein wüstes Doppelleben führt; ein habgieriger, nur auf Gelderwerb bedachter Mensch entpuppt sich auf einmal als großer Kunstliebhaber; harte, erbarmungslose Menschen vollbringen unvermutet gütige Taten; großmütige, joviale Männer erweisen sich plötzlich als geizig, als erbarmungslos. So kann es sein, daß sich in Amyas Crale, der stets seinen Egoismus betonte, insgeheim das Gewissen regte. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber ich glaube jetzt, daß es so gewesen sein muß. Und ich erinnere daran, daß Caroline hartnäckig bei ihrer Behauptung blieb. Das ist für mich ein Beweis!
Nun möchte ich unter dem Gesichtspunkt meiner neuen Überzeugung die Tatsachen erörtern.
Ich glaube, ich beginne am besten mit der Wiedergabe einer Unterredung, die ich einige Wochen vor der Tragödie mit Caroline hatte. Damals war Elsa Greer zum erstenmal in Alderbury. Caroline war sich, wie ich Ihnen ja schon sagte, meiner tiefen Zuneigung und Freundschaft bewußt, und so war ich der Mensch, dem sie sich am leichtesten anvertraute. Sie hatte damals seit einiger Zeit keinen sehr glücklichen Eindruck gemacht, dennoch war ich überrascht, als sie mich eines Tages plötzlich fragte, ob sich meiner Ansicht nach Amyas ernsthaft für das Mädchen, das er mitgebracht hatte, interessiere. «Es interessiert ihn, sie zu malen», antwortete ich, «du kennst ja Amyas.»
Sie schüttelte den Kopf: «Nein, er ist in sie verliebt.»
«Vielleicht ein bißchen.»
«Sehr, glaube ich.»
«Ich gebe zu, daß sie sehr hübsch ist, und wir beide wissen, wie empfänglich Amyas dafür ist. Aber du solltest ihn gut genug kennen, um zu wissen, daß er im Grunde nur an dir hängt. Ab und zu hat er eine Liebelei, aber das dauert ja nie lange. Du bist für ihn die einzige Frau, die wirklich zählt, und obwohl er sich schlecht benimmt, ändert das nichts an seinen Gefühlen für dich.»
«Bisher habe ich das auch immer geglaubt», erwiderte sie.
«Glaube mir, Caroline, es ist auch jetzt noch so.»
«Nein, diesmal habe ich Angst. Dieses Mädchen ist so erschreckend aufrichtig. Sie ist so jung, so intensiv. Ich habe das Gefühl, daß es diesmal ernst ist.»
«Aber gerade die Tatsache, daß sie so jung und, wie du sagst, so aufrichtig ist, wird sie schützen. Im allgemeinen sind Frauen für Amyas Freiwild, aber bei diesem Mädchen wird es etwas anderes sein.»
«Davor habe ich ja eben Angst: daß es anders sein wird. Ich bin jetzt vierunddreißig, Meredith, und wir sind schon zehn Jahre verheiratet. Was das Aussehen anbelangt, kann ich mit diesem jungen Ding nicht konkurrieren.»
«Aber du weißt doch, Caroline», widersprach ich, «du weißt doch, daß Amyas dich wirklich liebt.»
«Weiß man bei Männern je, woran man ist?» Sie lachte traurig. «Ich bin ein primitiver Mensch; am liebsten würde ich mit der Axt auf dieses Mädchen losgehen.»
Ich entgegnete, daß das Mädchen wahrscheinlich gar nicht wisse, was es tue. Sie bewundere Amyas sehr, aus einer Art Heldenverehrung, und wahrscheinlich sei ihr überhaupt nicht bewußt, daß sich Amyas in sie verliebt habe. Caroline erwiderte nur: «Ach, du guter Meredith!» und begann über etwas anderes zu sprechen. Ich hoffte, daß sie sich keine Sorgen mehr mache.
Kurz danach ging Elsa nach London zurück, und auch Amyas verreiste für einige Wochen. Ich hatte die Angelegenheit vergessen, aber später hörte ich, daß Elsa nach Alderbury zurückgekommen sei, weil Amyas das Bild fertigmalen wolle. Diese Nachricht betrübte mich, doch als ich Caroline das nächste Mal sah, war sie nicht sehr mitteilsam gestimmt; sie schien gelassen wie immer, in keiner Weise beunruhigt, und so nahm ich an, daß alles in Ordnung sei.
Um so bestürzter war ich daher, als ich erfuhr, wie sich die Verhältnisse zugespitzt hatten. Ich habe Ihnen meine Unterhaltung mit Crale und Elsa bereits geschildert. An dem Nachmittag ergab sich keine Gelegenheit, mit Caroline zu sprechen; wir konnten, wie ich Ihnen sagte, nur ein paar Worte über den bewußten Gegenstand wechseln. Ich sehe noch heute ihr Gesicht vor mir, die weit aufgerissenen dunklen Augen, und höre sie sagen: «Alles ist zu Ende...»
Ich kann Ihnen die entsetzliche Trostlosigkeit, die aus diesen Worten klang, gar nicht beschreiben. Da Amyas sie verlassen wollte, war für sie alles zu Ende. Und darum nahm sie das Koniin, davon bin ich überzeugt. Es war der Ausweg für sie, den ich ihr durch meinen blöden Vortrag gewiesen hatte. Und die Stelle aus Phaidon, die ich vorlas, vermittelt ein lockendes Bild des Todes.
Ich glaube jetzt, daß sie das Koniin genommen hat, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten, wenn Amyas sie verließe. Vielleicht hat er gesehen, wie sie es nahm, oder hat es später bei ihr entdeckt. Diese Entdeckung hatte eine fürchterliche Wirkung auf ihn. Er war darüber entsetzt, wie weit sein Verhalten sie getrieben hatte. Doch trotz seiner Gewissensbisse konnte er sich nicht dazu entschließen, Elsa aufzugeben. Ich verstehe das. Wer sich einmal in sie verliebt hatte, konnte nicht mehr von ihr loskommen. Er konnte sich das Leben ohne Elsa nicht vorstellen, aber er war sich auch klar darüber, daß Caroline ohne ihn nicht leben konnte, und so fand er, der einzige Ausweg für ihn sei, das Gift zu nehmen.