Ungefähr vierzig Minuten später klagte Amyas über Schmerzen und Steifheit in den Gliedern; es müsse Rheumatismus sein, erklärte er. Er liebte es nicht, über sein Befinden zu sprechen, und leichthin fügte er hinzu: «Das ist das Alter, du kriegst einen jammernden alten Mann, Elsa.» Ich ging auf seinen Ton ein, sah jedoch, daß er sich immer schwerer bewegte und ein paarmal das Gesicht schmerzlich verzog, aber ich konnte mir nicht denken, daß es etwas anderes als Rheumatismus sei. Nach einer Weile zog er die Bank an die Staffelei, damit er sich hinlegen konnte; dann richtete er sich nur noch ab und zu auf, um einen Pinselstrich zu machen. Das hatte er auch früher schon häufig getan, daß er einfach dasaß und abwechselnd mich und die Leinwand anstarrte; manchmal tat er das eine halbe Stunde lang. So fand ich nichts Außergewöhnliches dabei. Als es zum Mittagessen läutete, sagte er, er komme nicht zum Haus; er wolle hierbleiben, und man brauche ihm auch nichts zu schicken. Auch das war nichts Ungewöhnliches, und außerdem brauchte er so nicht mit Caroline am Tisch zu sitzen. Er sprach etwas merkwürdig; es war eigentlich mehr ein Grunzen zu nennen; aber auch das pflegte er öfters zu tun, wenn er mit seiner Arbeit nicht zufrieden war. Selbst als Meredith kam, um mich zu holen, knurrte er lediglich, als Meredith ihn etwas fragte.
Meredith und ich gingen also zusammen zum Haus und ließen ihn zurück. Wir ließen ihn dort... ließen ihn allein sterben. Ich hatte noch nicht viel von Krankheit gesehen; ich verstand nichts davon, und so glaubte ich, Amyas hätte nur eine seiner Künstlerlaunen. Wenn ich etwas geahnt hätte, hätte man ihn vielleicht noch retten können.. Mein Gott, warum habe ich nichts getan? Aber es hat ja keinen Zweck, jetzt noch darüber zu grübeln. Ich war blind, blind und blöde. Weiter ist nicht viel zu berichten.
Caroline und die Gouvernante gingen nach dem Essen zur Schanze hinunter; Meredith folgte ihnen, kam aber nach kurzer Zeit zurückgelaufen mit der Nachricht, Amyas sei tot. Ich wußte sofort Bescheid - ich war sicher, daß Caroline es getan hatte. Ich dachte nicht an Gift, ich glaubte, sie habe ihn, als sie eben hinuntergegangen war, erschossen oder erdolcht. Ich wollte sie umbringen.. Wie konnte sie das tun, wie konnte sie? Er war so lebendig, so erfüllt von Leben und Kraft. Und all das mußte sie vernichten, nur damit ich ihn nicht haben sollte! Gräßliches Weib!
Gräßliches, ekelhaftes, grausames, rachsüchtiges Weib! Ich hasse sie ! Ich hasse sie immer noch! Sie haben sie nicht einmal gehängt! Sie hätten sie hängen müssen! Selbst hängen wäre noch zu gut für sie gewesen! Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich hasse sie !
4 Bericht von Cecilia Williams
Sehr geehrter Monsieur Poirot,
beiliegend sende ich Ihnen einen Bericht über die Ereignisse, die sich im September 19.. abgespielt haben und deren Zeuge ich war.
Ich habe nichts beschönigt und nichts verschwiegen, Sie können den Bericht Carla Crale zeigen. Es wird sie schmerzen, aber ich war stets für die Wahrheit. Beschönigungen sind nur schädlich; man muß den Mut haben, der Wirklichkeit ins Antlitz zu schauen. Am meisten schaden uns jene Menschen, die uns vor der Wirklichkeit schützen wollen.
Mit verbindlichen Grüßen
Ihre Cecilia Williams.
Ich heiße Cecilia Williams. Ich wurde im Jahre 19.. von Mrs. Crale als Gouvernante für ihre Halbschwester Angela Warren engagiert. Ich war damals achtundvierzig Jahre alt. Ich trat meinen Dienst in Alderbury an, einem wunderschönen Besitz im Süden von Devonshire, der seit Generationen der Familie Crale gehörte. Ich wußte, daß Mr. Crale ein sehr bekannter Maler war, habe ihn persönlich aber erst in Alderbury kennengelernt.
Der Haushalt bestand aus Mr. und Mrs. Crale, ihrer kleinen Tochter Carla, Angela Warren, dreizehn Jahre alt, und drei Dienstboten, die schon seit Jahren in der Familie waren. Ich stellte sofort fest, daß mein Zögling einen interessanten und vielversprechenden Charakter hatte. Sie war sehr begabt, und es war eine Freude, sie zu unterrichten. Sie war zwar wild und ungebärdig, aber diese Fehler sind meist die Folge eines aufgeweckten Wesens, und aufgeweckte Zöglinge waren mir stets lieber. Übermäßige Lebhaftigkeit kann sich, wenn man sie in die richtigen Bahnen lenkt, gut auswirken. Alles in allem fand ich Angela leicht erziehbar. Sie wurde zwar ziemlich verwöhnt, hauptsächlich von Mrs. Crale, die viel zu nachsichtig mit ihr war. Mr. Crales Verhalten ihr gegenüber fand ich nicht sehr klug: an einem Tag war er unvernünftig nachsichtig und am nächsten übertrieben streng. Er war ein launenhafter Mensch, was man bei einem Künstler oft durch sein Talent zu entschuldigen pflegt; aber ich habe nie eingesehen, warum künstlerisches Talent eine Entschuldigung für Unbeherrschtheit sein soll. Außerdem gefiel mir Mr. Crales Malerei nicht. Die Zeichnung kam mir falsch vor, und die Farben fand ich zu grell, aber natürlich wurde ich nie aufgefordert, meine Meinung zu äußern.
Ich empfand bald eine tiefe Sympathie für Mrs. Crale, und ich bewunderte ihren Charakter und ihre Haltung angesichts ihrer schwierigen Lage. Mr. Crale war ein treuloser Ehemann, und ich glaube, daß das eine ständige Quelle großen Leides für sie war. Eine Frau mit einem stärkeren Charakter hätte ihn verlassen, doch Mrs. Crale schien das nie in Erwägung zu ziehen. Sie ertrug seine Untreue und verzieh sie ihm, aber sie war nicht sanft, sie machte ihm heftige Vorwürfe. Bei der Verhandlung wurde behauptet, die beiden hätten wie Hund und Katze miteinander gelebt. Das finde ich übertrieben, Mrs. Crale besaß viel zu viel Würde, als daß man diesen Ausdruck auf sie hätte anwenden können, aber sie hatten heftige Auseinandersetzungen, was unter diesen Umständen nur verständlich war. Ich war etwas über zwei Jahre bei Mrs. Crale, als Miss Elsa Greer im Sommer 19.. auf der Bildfläche erschien; Mrs. Crale kannte sie noch nicht; sie war mit Mr. Crale befreundet, und es hieß, sie sei gekommen, weil er sie malen wolle. Es war von Anfang an offensichtlich, daß Mr. Crale in dieses Mädchen verliebt war und daß das Mädchen ihn keineswegs entmutigte. Sie benahm sich meiner Meinung nach schandbar; sie war unverschämt zu Mrs. Crale und flirtete ganz ungeniert mit Mr. Crale.
Natürlich äußerte sich Mrs. Crale mir gegenüber nicht, aber ich konnte sehen, daß sie litt, und ich tat alles, was in meiner Macht stand, um sie abzulenken und ihre schwere Last zu erleichtern. Miss Greer saß jeden Tag Modell, aber ich stellte fest, daß die Arbeit nicht vom Fleck kam. Offensichtlich hatten die beiden anderes zu tun!
Mein Zögling bemerkte Gott sei Dank nur wenig von dem, was sich abspielte. In gewisser Beziehung war Angela noch jung für ihr Alter; obwohl geistig sehr entwickelt, war sie in keiner Weise frühreif. Sie versuchte weder verbotene Bücher zu lesen, noch zeigte sie eine besondere Neugier, wie so viele Mädchen ihres Alters. Sie fand an der Freundschaft zwischen Mr. Crale und Miss Greer nichts Ungehöriges, konnte aber Miss Greer nicht leiden, denn sie hielt sie für dumm. Womit sie recht hatte. Miss Greer hatte, so nehme ich wenigstens an, eine gute Schulbildung genossen, las aber nie ein Buch und hatte keinerlei literarische Kenntnisse; man konnte sich über kein intellektuelles Thema mit ihr unterhalten. Sie ging voll und ganz in der Pflege ihres Äußeren auf und interessierte sich überhaupt nur für Kleider und Männer.
Ich glaube, daß Angela nicht einmal bemerkte, daß ihre Schwester unglücklich war. Sie kümmerte sich damals nicht viel um andere Menschen; den Hauptteil ihrer Zeit verbrachte sie mit allem möglichen Unfug, kletterte auf Bäume und unternahm wilde Radtouren. Auch las sie leidenschaftlich gern und bewies schon damals einen guten literarischen Geschmack. Mrs. Crale war auch ängstlich besorgt, ihr Unglück vor Angela zu verbergen; sie täuschte in Gegenwart des Mädchens stets gute Laune vor.