«Die Lektüre hat Sie entmutigt?»
«Ja. Sie nicht auch?»
«Nein, ich finde diese Berichte sehr aufschlußreich», antwortete Poirot langsam und nachdenklich.
«Ich wünschte, ich hätte sie nie gelesen», erwiderte Carla. «Alle sind von Mutters Schuld überzeugt, außer Tante Angela, und ihre Aussage zählt nicht; sie hat ja keinen Beweis dafür. Sie ist ein treuer Mensch, der für einen andern durch dick und dünn geht. - Natürlich ist mir klar, daß, wenn meine Mutter es ncht getan hat, eine jener andern fünf Personen der Täter sein muß. Ich habe nachgedacht und mir auch schon einige Theorien zurechtgelegt, aber...»
«Das interessiert mich.»
«Ach, es sind nur Theorien. Zum Beispiel Philip Blake. Er ist Börsenmakler, und er war der beste Freund meines Vaters; wahrscheinlich hat Vater ihm vertraut. Künstler sind in Gelddingen meist sehr nachlässig - vielleicht war Blake in Schwierigkeiten und hatte Vaters Geld veruntreut. Vielleicht hatte er meinen Vater veranlaßt, einen Wechsel zu unterzeichnen. Dann drohte die Entdeckung, und die einzige Rettung für ihn war Vaters Tod. Das ist eine meiner Theorien.»
«Nicht schlecht. Und weiter?»
«Da ist Elsa. Philip Blake schreibt zwar, sie sei zu schlau, um sich durch Gift zu belasten, aber der Ansicht bin ich gar nicht. Angenommen, meine Mutter hätte ihr erklärt, sie werde unter keinen Umständen in eine Scheidung einwilligen. Sie können mir sagen, was Sie wollen, Monsieur Poirot, aber ich glaube, daß Elsa im Grunde ihres Herzens recht bürgerlich war; sie wollte richtig verheiratet sein. Nach dieser Unterredung hat sie vielleicht das Gift gestohlen, um meine Mutter bei Gelegenheit zu beseitigen. Das wäre ihr zuzutrauen. Und dann trank mein Vater infolge eines unglücklichen Versehens das Gift.»
«Auch nicht schlecht. Sonst noch ein Verdacht?»
«Also... vielleicht... Meredith!» antwortete Carla langsam. «Hm.. Meredith Blake?»
«Ja. Ich glaube, er wäre imstande, einen Menschen zu ermorden. Er ist der Trottel, über den die Leute lachen, und das kränkte ihn von jeher. Mein Vater heiratete das Mädchen, das er liebte. Mein Vater war reich und hatte großen Erfolg. Vielleicht braute Meredith diese Gifte nur, um eines Tages jemanden umzubringen. Er warnte vor dem Gift, um den Verdacht von sich abzulenken. Vielleicht wollte er meine Mutter am Galgen sehen, weil sie ihn vor Jahren abgewiesen hatte. All das, was er in seinem Bericht schreibt - daß Menschen fähig seien, Dinge zu tun, die gar nicht zu ihnen passen, klingt verdächtig. Vielleicht hat er sich selbst damit gemeint.»
«Zumindest haben Sie recht damit, daß man diese Berichte nicht als unumstößliche Wahrheit hinnehmen kann. Manches mag geschrieben worden sein, um uns in die Irre zu führen. Wer käme Ihrer Meinung nach sonst noch in Frage?»
«Ich habe über Miss Williams nachgedacht. Es war klar, daß sie ihre Stellung verlor, wenn Angela ins Internat kam. Wenn aber Amyas plötzlich starb, würde Angela wahrscheinlich nicht fortmüssen. Ich habe im Lexikon nachgeschaut und festgestellt, daß Koniin keine leicht erkennbaren Spuren hinterläßt; wahrscheinlich hätte man nie auf Mord geschlossen, wenn Meredith nicht das Gift vermißt hätte. Man hätte ja einen Sonnenstich annehmen können. Ich weiß, daß der Verlust einer Stellung nicht gerade das Motiv zu einem Mord ist, aber es sind schon Mord aus wesentlich geringfügigeren Motiven verübt worden. Eine ältere, vielleicht untüchtige Gouvernante könnte doch aus Angst um ihre Zukunft den Kopf verloren haben. Das dachte ich, bevor ich den Bericht von ihr las, aber Miss Williams scheint diesem Bild nicht zu entsprechen. Bestimmt ist sie nicht untüchtig.»
«Das kann man wohl sagen. Sie ist sehr tüchtig und gescheit.»
«Ich weiß, und was sie geschrieben hat, klingt absolut wahr. Das hat mich am meisten getroffen. Ich glaube, wir wissen nun die Wahrheit! Aber Miss Williams hat ganz recht, man muß die Wahrheit hinnehmen; es ist nicht gut, sein Leben auf einer Lüge aufzubauen. Ich werde also die Tatsache hinnehmen müssen, daß meine Mutter nicht unschuldig war. Sie schrieb mir diesen Brief; weil sie schwach und unglücklich war und meine Gefühle schonen wollte. Ich verurteile sie nicht. Vielleicht würde ich das gleiche tun - ich weiß nicht, wie weit Gefängnis einen Menschen beeinflußt; und ich kann ihr auch keinen Vorwurf daraus machen, daß sie über meinen Vater verzweifelt war. Sie konnte eben nicht anders. Doch auch meinen Vater verurteile ich nicht; er war so lebendig, er wollte alles vom Leben haben... er war nun einmal so geschaffen, und ich habe Verständnis für ihn. Außerdem war er ein genialer Maler, das entschuldigt vieles.»
«Sie glauben nun also an die Schuld Ihrer Mutter?» fragte Poirot.
«Was bleibt mir anderes übrig?» antwortete sie mit zitternder Stimme.
Poirot klopfte ihr väterlich auf die Schultern. «Sie geben den Kampf in dem Moment auf, da es sich am meisten lohnt, zu kämpfen - in dem Moment, da ich, Hercule Poirot, zu wissen glaube, was sich wirklich ereignet hat.»
Carla starrte ihn an. «Miss Williams liebte meine Mutter, und sie sah mit ihren eigenen Augen, wie sie dafür sorgte, daß die Fingerabdrücke meines Vaters auf der Flasche zu finden sein würden. Wenn Sie glauben, was sie schreibt...» Hercule Poirot stand auf und sagte: «Mademoiselle, gerade diese Erklärung von Cecilia Williams, daß sie sah, wie Ihre Mutter die Finger Ihres Vaters auf die Bierflasche - die Bierflasche, sage ich - preßte, ist für mich der Beweis, daß Ihre Mutter Ihren Vater nicht getötet hat!» Er nickte mehrmals und ging. Carla starrte ihm nach.
2 Poirot stellt fünf Fragen
«Womit kann ich Ihnen dienen, Monsieur Poirot?» fragte Philip Blake ärgerlich.
«Ich möchte Ihnen für Ihren ausgezeichneten und besonders klaren Bericht über die Crale-Tragödie danken», entgegnete Poirot.
Etwas verlegen murmelte Philip Blake: «Sehr liebenswürdig. Es hat mich selbst überrascht, an wieviel ich mich noch erinnerte.»
«Wie gesagt, der Bericht ist ausgezeichnet, aber es fehlt einiges.»
«Es fehlt einiges?» wiederholte Blake stirnrunzelnd. «Ihr Bericht ist nicht ganz aufrichtig.» Poirots Stimme wurde schärfer. «Ich habe erfahren, Mr. Blake, daß in jenem Sommer Mrs. Crale einmal gesehen wurde, wie sie zu einer kompromittierenden Zeit, am späten Abend, aus Ihrem Schlafzimmer kam.»
In dem Schweigen, das nun folgte, hörte man Blakes heftiges Atmen, schließlich fragte er: «Wer hat das gesagt?»
«Das spielt keine Rolle. Das Entscheidende ist, daß ich es weiß.»
Wieder folgte Schweigen. Dann entschloß sich Philip Blake zu sprechen. Er räusperte sich und sagte: «Durch Zufall scheinen Sie eine ganz private Angelegenheit erfahren zu haben. Ich gebe zu, daß es im Widerspruch zu meinem Bericht steht, aber nur scheinbar. Daher werde ich Ihnen jetzt die Wahrheit sagen. Ich habe stets etwas gegen Caroline Crale gehabt, doch gleichzeitig fühlte ich mich heftig zu ihr hingezogen. Vielleicht wurde meine Abneigung gerade durch meine Zuneigung hervorgerufen - ich war erbittert über die Macht, die sie über mich hatte, und versuchte meine Zuneigung zu unterdrücken, indem ich ständig das Schlechte bei ihr suchte. Ich habe sie nie gern gehabt, verstehen Sie? Aber sie hat stets einen starken erotischen Reiz auf mich ausgeübt; schon als junger Bursche war ich in sie verliebt. Sie beachtete mich nicht, und das konnte ich ihr nie vergessen. Meine Gelegenheit kam, als Amyas sich Hals über Kopf in Elsa Greer verliebte. Fast ohne es zu wollen, gestand ich nun Caroline meine Liebe, und sie antwortete gelassen: «Das habe ich schon immer gewußt. Eine Unverschämtheit!
Natürlich war mir klar, daß sie mich nicht liebte, aber sie war infolge von Amyas' Verhalten verstört und enttäuscht. Eine Frau in dieser Stimmung ist leicht zu erobern; sie versprach, in der Nacht zu mir zu kommen. Und sie kam.» Blake hielt inne, es fiel ihm sichtlich schwer, weiterzusprechen. «Sie kam in mein Zimmer. Und dann sagte sie mir, während ich sie schon in den Armen hielt, daß sie mich nicht haben wolle! Sie könne nur einen Mann lieben, und trotz allem, was Amyas ihr antue, gehöre sie nur ihm. Sie bat mich um Entschuldigung, aber sie könne nicht anders. Und sie ging fort. Sie ging fort! Wundert es Sie jetzt noch, Monsieur Poirot, daß mein Haß sich verhundertfachte? Wundert es Sie, daß ich ihr das nie verziehen habe? Sowohl diese Beschimpfung, die sie mir antat, wie die Ermordung meines besten Freundes!» Heftig zitternd schrie er: «Ich will nicht mehr darüber sprechen, hören Sie? Sie haben nun Ihre Antwort! Scheren Sie sich zum Teufel! Und sprechen Sie mir nie wieder davon!»