«Und die anderen?»
«Da ist noch Blakes älterer Bruder, ein Gutsbesitzer, der am liebsten zu Hause hockt.»
Ein Kinderlied kam Poirot in den Sinn. Er ärgerte sich darüber. Diese Erinnerungen an alte Kinderlieder waren in letzter Zeit bei ihm fast schon zur Manie geworden. Aber der Reim kam ihm wieder in den Sinn. «Ein rosiges Schweinchen ging zum Markt, ein rosiges Schweinchen blieb zu Haus'... »
Er murmelte: «Er blieb zu Haus'... »
«Er ist der Mann, von dem ich vorhin sprach, der mit den Kräutern und Heilmitteln. Das ist sein Steckenpferd. Ich komme jetzt nicht auf seinen Vornamen.. ah, doch, ich hab's: Meredith... Meredith Blake. Ich weiß aber nicht, ob er noch lebt.»
«Wer noch?»
«Wer noch? Die Ursache allen Übels: das Mädchen! Elsa Greer.»
«Ein rosiges Schweinchen bekam Roastbeef», murmelte Poirot. Depleach starrte ihn an. «Die ist gut mit Fleisch gefüttert worden», sagte er, «sie hat sich immer das genommen, was sie haben wollte. Sie hat jetzt bereits den dritten Mann. Eine Scheidung mehr oder weniger spielt bei ihr keine Rolle. Und bei jedem Wechsel gewinnt sie. Augenblicklich ist sie Lady Dittisham. Sie können ihr Bild in jeder Zeitschrift finden.»
«Und die andern zwei?»
«Da ist die Gouvernante. An ihren Namen erinnere ich mich nicht mehr, aber sie war eine ordentliche, tüchtige Person. Und dann das Kind, Caroline Crales Halbschwester. Sie muß damals ungefähr fünfzehn gewesen sein. Inzwischen ist sie recht bekannt geworden; sie gräbt Altertümer aus. Warren heißt sie, Angela Warren. Sie ist eine beachtenswerte, energiegeladene Dame. Ich sprach sie erst neulich.»
«Sie ist also nicht das Schweinchen, das <weih weih> schrie?» Depleach sah ihn merkwürdig an und erwiderte trocken: «Sie hätte Grund <weih weih> zu schreien! Sie ist nämlich durch eine häßliche Narbe auf der einen Gesichtshälfte entstellt. Sie... na, das werden Sie noch alles hören.»
Poirot stand auf. «Herzlichen Dank. Sie waren sehr liebenswürdig. Wenn Mrs. Crale ihren Mann nicht getötet hat...» Depleach unterbrach ihn: «Aber sie hat ihn getötet, alter Freund. Verlassen Sie sich darauf.»
Ohne auf die Unterbrechung zu achten, beendete Poirot seinen Satz: «... dann muß es logischerweise eine dieser fünf Personen getan haben.»
«Das wäre möglich», sagte Depleach nachdenklich, «aber ich kann das Motiv nicht sehen. Wie gesagt, ich bin ganz sicher, daß es keiner von ihnen war. Schlagen Sie sich das aus dem Sinn, alter Freund!» Doch Hercule Poirot schüttelte lächelnd den Kopf.
2 Der Staatsanwalt
«Eindeutig schuldig!» erklärte Mr. Fogg kurz und bündig. Hercule Poirot betrachtete nachdenklich das schmale, scharfgeschnittene Gesicht des berühmten Juristen. Quentin Fogg war ein völlig anderer Mensch als Montague Depleach; er war dünn, farblos. Seine Fragen waren ruhig, gemessen, beharrlich. Depleach konnte man mit einem Rapier vergleichen, Fogg mit einem Bohrer. Er bohrte stetig. Er hatte nie blendende Erfolge erzielt, galt aber als hervorragender Jurist und pflegte seine Fälle zu gewinnen. «Sie sind also ganz sicher?» fragte Poirot.
Fogg nickte. «Sie hätten sie auf der Anklagebank sehen sollen. Der alte Humpie Rudolph, der damals mein Chef war, machte einfach Hackfleisch aus ihr. Hackfleisch! Er machte mit ihr, was er wollte. Zunächst befragte Depleach sie, und sie stand da wie ein gehorsames Schulmädchen bei einer Prüfung. Ihre Antworten klangen wie auswendig gelernt, denn man hatte ihr eingebläut, was sie zu sagen hatte. Es war nicht Depleachs Schuld. Der alte Fuchs spielte seine Rolle ausgezeichnet, aber zu einer Szene gehören zwei Schauspieler, einer allein schafft es nicht, und sie spielte nicht mit. Es machte einen verheerenden Eindruck auf die Geschworenen. Und dann stand der alte Humpie auf. Ein Jammer, daß er nicht mehr am Leben ist. Mit einem Ruck schob er die Ärmel seines Talars zurück, wiegte sich auf den Absätzen.. und dann ging's los! Wie ich schon sagte, machte er Hackfleisch aus ihr. Er wies auf dieses hin und auf jenes, und stets ging sie in die Falle. Er zwang sie, die Unwahrscheinlichkeit ihrer Aussagen zuzugeben, verwickelte sie in Widersprüche, bis sie in ihrem eigenen Netz zappelte. Und dann kamen seine Schlußworte, logisch, unwiderlegbar: <Ich behaupte, Mrs. Crale, daß Ihre Geschichte, das Koniin gestohlen zu haben, um Selbstmord zu begehen, erlogen ist. Ich behaupte, daß Sie es gestohlen haben, um Ihren Mann zu vergiften, der im Begriff war, Sie um einer anderen Frau willen zu verlassen. Ich behaupte, daß Sie diese Tat mit vollster Überlegung begangen haben!> Und sie blickte ihn an - sie war so hübsch, so anmutig und zart - und sagte nur: <Oh... nein... nein, ich habe es nicht getan!> Etwas Dürftigeres, etwas weniger Überzeugendes, hätte sie nicht sagen können. Ich sah, wie sich Depleach auf seinem Sitz krümmte und wand - er wußte, daß er verloren hatte.» Fogg schwieg einen Augenblick, ehe er weitersprach: «Und doch... ich weiß nicht. Irgendwie war es von ihr ganz geschickt. Es appellierte an die Ritterlichkeit. Die Geschworenen wußten, das ganze Gericht wußte, daß sie keine Chance hatte. Sie konnte nicht einmal für sich kämpfen, sie konnte natürlich nicht gegen so einen gerissenen Kerl wie den alten Humpie aufkommen. Dieses schwache, hilflose <Oh, nein, ich habe es nicht getan!> war rührend... einfach rührend. Sie war verloren!
Und doch war es in einer Hinsicht das beste, was sie hatte tun können. Die Beratung der Geschworenen dauerte nur eine halbe Stunde. Und ihr Wahrspruch lautete: <Schuldig, mit Begnadigungsvorschlag. >
Sie hatte nämlich im Gegensatz zu der anderen Frau einen guten Eindruck gemacht. Dieses Mädchen, diese Elsa Greer! Von vornherein war sie den Geschworenen unsympathisch gewesen. Sie war bildhübsch, aber kaltschnäuzig, hypermodern. Für die Frauen im Saal war sie eines der Mädchen, denen nichts heilig ist, die keine Ehe respektieren - Mädchen voll Sex-Appeal und voll Verachtung für die Rechte der Ehefrauen. Sie war ganz offen, das muß ich sagen, überraschend offen. Sie habe sich in Amyas Crale verliebt, und er sich in sie, und sie habe keine Bedenken gehabt, ihn seiner Frau und seinem Kind fortzunehmen. Irgendwie bewunderte ich sie; sie hatte Mark in den Knochen. Beim Kreuzverhör stellte ihr Depleach einige böse Fragen, und sie hielt tapfer stand. Aber den Geschworenen war sie unsympathisch, und auch der Richter mochte sie nicht. Es war der alte Avis. In seiner Jugend hat er es selbst toll getrieben, aber er ist höchst moralisch, wenn er in seiner Robe thront. Caroline Crale gegenüber war er die verkörperte Milde. Die Tatsachen konnte auch er nicht bestreiten, doch er betonte, wie sehr sie herausgefordert worden sei und so weiter.»
«Er schloß sich nicht der Selbstmordtheorie der Verteidigung an?» fragte Poirot.
Fogg schüttelte den Kopf. «Die stand auf zu schwachen Füßen. Depleach hatte wirklich sein Bestes getan, er war wunderbar. Er schilderte in der rührendsten Weise, wie der großherzige, lebenshungrige, temperamentvolle Mann von der Leidenschaft zu einem schönen jungen Mädchen überwältigt wurde, wie Gewissensbisse ihn peinigten und wie er dennoch der Versuchung nicht widerstehen konnte. Dann seine Reue, seinen Ekel vor sich selbst, seine Gewissensbisse seiner Frau und seinem Kind gegenüber und sein plötzlicher Entschluß, mit allem ein Ende zu machen. Der ehrenhafte Ausweg! Es war eine äußerst rührende Darstellung. Depleach brachte einem die Tränen in die Augen, und man sah diesen armen, unglücklichen Menschen, zwischen Leidenschaft und angeborenem Anstandsgefühl hin und her gerissen, förmlich vor sich. Doch als nach Schluß seiner Rede der Bann gebrochen war, konnte man diese geschilderte Idealfigur nicht mit dem wirklichen Amyas Crale in Einklang bringen. Man kannte Crale zu gut; das Bild paßte nicht zu ihm. Ich möchte beinahe sagen, daß Crale überhaupt kein Gewissen hatte. Er war ein hemmungsloser, gutmütiger, vergnügter Egoist, der das bißchen Ethik, das er besaß, in Kunst umsetzte. Ich bin überzeugt, daß er nie nachlässig oder schlecht gemalt hätte, wenn die Verführung auch noch so groß gewesen wäre. Aber sonst war er leichtlebig und genoß, was das Dasein ihm bot. Selbstmord? Niemals!»