Hercule Poirot deutete auf das Bild an der Wand. «Ich hätte es sofort erkennen müssen, als ich das Bild zum ersten Male sah, denn es ist ein bemerkenswertes Bild: es ist das Bild einer Mörderin, die von ihrem Opfer gemalt wird; es ist das Bild einer Frau, die zusieht, wie ihr Geliebter stirbt...»
5 Nachlese
In dem Schweigen, das folgte, einem entsetzten, lastenden Schweigen, erlosch langsam das Sonnenlicht; die letzten Strahlen schwanden von der Gestalt der Frau, die unbeweglich am Fenster saß. Schließlich rührte sich Elsa Dittisham und sagte: «Meredith, gehen Sie mit allen hinaus und lassen Sie mich mit Monsieur Poirot allein.»
Regungslos blieb sie sitzen, bis sich die Tür hinter den Hinausgehenden schloß. Dann sagte sie: «Sie sind sehr klug, Monsieur Poirot.» Er schwieg.
«Was erwarten Sie von mir? Soll ich ein Geständnis ablegen?» Er schüttelte den Kopf.
«Ich denke nämlich nicht daran», fuhr sie fort. «Ich werde nichts zugeben. Was wir jetzt miteinander sprechen, spielt keine Rolle, es stünde nur Aussage gegen Aussage.»
«Richtig.»
«Ich möchte wissen, was Sie zu tun beabsichtigen.» Poirot antwortete: «Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um einen nachträglichen Freispruch für Caroline Crale zu erlangen.»
«Und was haben Sie mit mir vor?» fragte sie ironisch. «Ich werde die Ergebnisse meiner Untersuchung der zuständigen Stelle übermitteln. Wenn man glaubt, man könne gegen Sie vorgehen, soll man es tun. Meiner Ansicht nach genügt das Beweismaterial nicht; es sind nur Vermutungen, keine Tatsachen. Außerdem wird man sich nicht danach drängen, gegen eine Persönlichkeit wie Sie vorzugehen, wenn keine schlagenden Beweise vorhanden sind.»
«Das wäre mir egal», erwiderte Elsa. «Wenn ich auf der Anklagebank um mein Leben kämpfen müßte, wäre das etwas Aufregendes. Ich könnte es... genießen.»
«Ihr Mann aber nicht.»
Sie starrte ihn an. «Glauben Sie, daß ich mich im geringsten darum kümmere, was mein Mann empfinden würde?»
«Nein. Ich glaube nicht, daß Sie sich je in Ihrem Leben darum gekümmert haben, was Ihre Mitmenschen empfinden könnten. Wenn Sie es getan hätten, wären Sie glücklicher geworden.»
«Warum bedauern Sie mich?» fragte sie scharf. «Weil Sie noch soviel lernen müssen, meine Liebe.»
«Was soll ich lernen?»
«Alle Empfindungen erwachsener Menschen: Mitleid, Mitgefühl, Verständnis. Das einzige, was Sie in Ihrem Leben empfunden haben, sind Liebe und Haß.»
«Ich sah, wie Caroline das Gift nahm», sagte Elsa. «Ich glaubte, sie wolle sich umbringen - das hätte alles vereinfacht. Und dann, am nächsten Morgen, erfuhr ich die Wahrheit. Er sagte ihr, daß er sich nichts mehr aus mir mache, er sei ein bißchen verliebt gewesen, das sei aber vorbei. Sowie das Bild fertig sei, werde er mir sagen, ich solle meine Koffer packen. Sie brauche sich keine Sorgen mehr zu machen. Und sie - sie empfand Mitleid mit mir. Begreifen Sie, was das für mich bedeutete? Ich fand das Gift, ich schüttete es ihm ins Bier, und ich saß da und sah zu, wie er, starb. Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt, so voll Macht, habe noch nie innerlich so gejubelt. Ich sah zu, wie er starb...» Sie streckte die Arme aus. «Aber ich begriff nicht, daß ich mich tötete, nicht ihn! Nachher sah ich, wie sie in der Falle saß... aber auch das nützte mir nichts. Ich konnte ihr nicht weh tun... ihr war es gleich.. es berührte sie nicht... sie war gar nicht da. Sie und Amyas waren zusammen irgendwohin gegangen, wo ich sie nicht erreichen konnte. Nicht sie sind gestorben, ich bin gestorben.»
Sie stand auf, wandte sich zur Tür und wiederholte: «Ich bin gestorben...»
In der Halle ging sie an zwei jungen Menschen vorbei, deren gemeinsames Leben gerade begann.
Ein Chauffeur in Uniform hielt den Wagenschlag auf, Lady Dittisham stieg ein, und der Chauffeur legte ihr die Pelzdecke über die Knie.