«Das ist eben die Frage. Wer sonst?»
«Sie glauben, es könnte jemand anders gewesen sein?»
«Was ist Ihre Meinung?» Er antwortete: «Es kam kein anderer in Frage.»
«Waren Sie bei der Verhandlung zugegen?» fragte Poirot. «Bei jeder Sitzung.»
«Sie haben alle Zeugenaussagen gehört?»
«Ja.»
«Ist Ihnen bei keiner etwas aufgefallen, irgendeine Unaufrichtigkeit zum Beispiel?»
«Sie meinen, ob jemand gelogen hat?» fragte Edmunds unumwunden zurück. «Wer hatte ein Interesse an Mr. Crales Tod? Entschuldigen Sie bitte, Monsieur Poirot, aber Ihre Idee kommt mir reichlich ausgefallen vor.»
«Denken Sie doch bitte einmal nach», drängte Poirot. Stirnrunzelnd überlegte Edmunds und schüttelte schließlich bedauernd den Kopf. «Diese Person, diese Miss Greer, war böse, rachsüchtig. Dazu war sie hemmungslos, aber sie hat ja den lebenden Mr. Crale haben wollen, der tote nützte ihr nichts. Sie wollte, daß Mrs. Crale an den Galgen käme, weil der Tod ihr ihren Liebsten vor der Nase weggeschnappt hatte. Sie war wie eine enttäuschte Tigerin! Auch Mr. Philip Blake war gegen Mrs. Crale, er war voreingenommen und versuchte ihr zu schaden, wo er konnte. Aber ich muß zugeben, daß er, soweit ihm das möglich ist, ehrlich war. Mr. Crale war sein bester Freund. Sein Bruder, Mr. Meredith Blake - ein schlechter Zeuge, zerstreut, zögernd - schien nie genau zu wissen, was er antworten sollte. Ich kenne diese Art Zeugen, sie machen den Eindruck, als ob sie lügen, obwohl sie die Wahrheit sagen. Mr. Meredith Blake wollte möglichst wenig sagen, und gerade darum sagte er um so mehr aus. Er ist einer jener ruhig wirkenden Herren, die leicht in Panik geraten. Die Gouvernante hingegen verschwendete kein Wort; ihre Aussage war klar, kurz und bündig. Man konnte nicht erkennen, für wen sie war; aber jedenfalls hatte sie ihren Verstand beisammen.» Er hielt einen Augenblick inne. «Ihr würde ich zutrauen, daß sie mehr wußte, als sie aussagte.»
«Ich auch», sagte Poirot und betrachtete prüfend das schlaue, verrunzelte Gesicht von Mr. Alfred Edmunds. Das Gesicht blieb unbeweglich, doch Hercule Poirot war überzeugt, einen wertvollen Wink erhalten zu haben.
4 Der alte Anwalt
Mr. Caleb Jonathan wohnte in Essex. Nach einem höflichen Briefwechsel erhielt Poirot eine fast fürstliche Einladung zum Abendessen mit Übernachtung. Der alte Herr war eine ausgesprochene Persönlichkeit und wirkte nach der etwas unbestimmten, verschwommenen Art des jungen George Mayhew wie köstlicher Portwein. Er hatte seine eigene Methode, ein Thema zu behandeln, und erst gegen Mitternacht, bei einem Glas ausgezeichneten alten Kognak, ging er aus sich heraus. Offensichtlich schätzte er es, daß Hercule Poirot höflicherweise nicht drängte, und war nun bereit, über die Familie Crale zu sprechen.
«Unsere Firma hat schon für mehrere Generationen der Familie gearbeitet. Ich kannte Amyas Crale und seinen Vater, Richard Crale, und ich kann mich auch noch gut an Enoch Crale, den Großvater, erinnern. Alle waren sie typische Landedelleute und kümmerten sich mehr um Pferde als um Menschen. Sie waren ausgezeichnete Reiter, liebten die Frauen und belasteten ihr Hirn nicht mit Ideen. Sie mißtrauten Ideen. Aber Richard Crales Frau - die hatte Ideen; sie hatte mehr Ideen als Verstand. Sie war poetisch veranlagt und sehr musikalisch -ich glaube, sie spielte Harfe. Sie war kränklich und nahm sich auf dem Sofa sehr dekorativ aus.
Amyas Crale war das Produkt dieses gegensätzlichen Elternpaares. Von seiner schwächlichen Mutter erbte er den künstlerischen Einschlag, vom Vater seine Tatkraft, seinen brutalen Egoismus. Alle Crales waren Egoisten. Für sie gab es immer nur ihren eigenen Gesichtspunkt.»
Der alte Herr blickte Poirot verschmitzt an. «Ich glaube, Monsieur Poirot, Sie interessieren sich vor allem für die Charaktere der Menschen, nicht wahr?»
«Ja, das interessiert mich am meisten», bestätigte Poirot. «Das kann ich verstehen. Die wahre Natur eines Verbrechers ergründen. Sehr interessant. Wir haben uns nie mit Strafsachen befaßt und waren deshalb nicht zuständig für Mrs. Crale, selbst wenn wir es hätten machen können. Mayhew war der richtige Mann. Aber er hat leider nicht erkannt, daß Caroline nie ihre Rolle so spielen würde, wie er sie ihr zugedacht hatte. Sie war nicht für dramatische Effekte.»
«Wofür war sie denn?» fragte Poirot. «Das interessiert mich am meisten.»
«Sie meinen, wieso sie es getan hat? Das ist wirklich die Frage. Ich kannte sie schon vor ihrer Ehe. Ihr Mädchenname war Spalding. Sie war ein heftiges, unglückliches Geschöpf, aber sehr lebendig. Ihre Mutter war schon früh verwitwet, und Caroline hing sehr an ihr. Dann heiratete die Mutter wieder und bekam noch ein Kind. Ja, ja, das war sehr traurig, sehr schmerzlich. Diese jugendliche, peinigende Eifersucht!»
«Sie war eifersüchtig?»
«Und wie! Und es gab einen betrüblichen Vorfall. Die Arme, sie hat es bitterlich bereut. Aber Sie wissen ja, Monsieur Poirot, solche Dinge geschehen. Zurückhaltung übt man erst in reiferen Jahren.»
«Was ist geschehen?» fragte Poirot.
«Sie hat dem Kind, ihrer Halbschwester, einen Briefbeschwerer an den Kopf geworfen. Das Kind verlor ein Auge und war für immer entstellt.» Mr. Jonathan seufzte. «Sie können sich vorstellen, welche Wirkung die Erwähnung dieses Ereignisses bei der Verhandlung hervorrief.» Er schüttelte den Kopf. «Es wurde der Eindruck erweckt, Caroline Crale besitze ein ungezügeltes Temperament. Und das stimmte nicht. Nein, das stimmte nicht.» Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: «Caroline Spalding war oft in Alderbury zu Besuch. Sie ritt gut und war schneidig. Richard Crale mochte sie sehr. Sie zeigte sich auch geschickt und freundlich und kümmerte sich viel um Mrs. Crale, die das Mädchen ebenfalls gern hatte. Caroline fühlte sich zu Hause nicht glücklich, wohl aber in Alderbury. Sie war mit Diana, Amyas Schwester, sehr befreundet, und auch mit Philip und Meredith Blake, Jungens vom Nachbargut, die häufig nach Alderbury kamen. Philip war von jeher ein ekelhafter, geldgieriger Bengel; ich muß gestehen, daß ich ihn nie habe ausstehen können. Aber es heißt, daß er gut Witze erzählen kann und ein zuverlässiger Freund sei. Meredith hingegen war träumerisch; er interessierte sich für Botanik uid Schmetterlinge und Vögel und alles mögliche Getier. Ach ja, all diese jungen Leute waren eine Enttäuschung für ihre Väter. Keiner entsprach ihrem Ideaclass="underline" jagen, reiten, fischen Meredith beobachtete lieber die Vögel und sonstigen Tiere als sie zu jagen, und Philip zog die Stadt dem Landleben ausgesprochen vor und widmete sich hauptsächlich dem Geldverdienen. Diana heiratete einen Burschen, der kein Gentleman war, einen dieser Kriegsoffiziere, und Amyas schließlich, der kräftige, gutaussehende, männliche Amyas wurde ausgerechnet Maler. Meiner Ansicht nach ist Richard Crale aus Kummer darüber gestorben. Und eines Tages heiratete Amyas seine Jugendfreundin Caroline Spalding. Sie hatten sich immer schon gezankt, aber es war dennoch eine Liebesheirat. Sie waren ganz besessen voneinander, und so blieb es auch. Aber wie alle Crales war Amyas ein hemmungsloser Egoist. Er liebte Caroline, doch er nahm nie Rücksicht auf sie. Er tat nur, was ihm gefiel. Meiner Ansicht nach liebte er sie so sehr, wie er einen Menschen überhaupt lieben konnte - aber seine Kunst war ihm weit wichtiger. Seine Kunst war ihm das höchste; keine Frau war ihm je wichtiger als sie. Er hatte unzählige Liebesgeschichten - das inspirierte ihn - aber er ließ jede Frau rücksichtslos sitzen, wenn sie hn nicht mehr interessierte. Er war weder sentimental noch romantisch, auch war er nicht übermäßig sinnlich. Die einzige Frau, die ihm wirklich etwas bedeutete, war seine Frau. Und weil sie das wußte, nahm sie vieles hin. Von jedem Liebesabenteuer kam er ja auch wieder zu ihr zurück - meist mit einem neuen Bild. Er war ein großer Maler; und sie respektierte seine Kunst.