Skar fand kaum Zeit, seinen Schrecken zu überwinden, denn hinter dem Sterbenden wuchs plötzlich eine riesenhafte, breitschultrige Gestalt mit einem Gesicht aus Schuppen und Panzerplatten in die Höhe. Von ihrer rechten Hand tropfte Blut. Skar ließ sich einfach zur Seite fallen, als der Quorrl mit einem Wutschrei auf ihn losstürmte, wobei er den sterbenden Zauberpriester einfach beiseite schleuderte. Er entging dem Fausthieb des Giganten nur um Haaresbreite, rollte sich blitzschnell zur Seite und versuchte auf die Füße zu kommen, aber er hatte die Schnelligkeit seines Gegners unterschätzt. Der Quorrl tobte vor Zorn, aber es war nicht jene Art von Zorn, die ihn blind gemacht hätte. Noch ehe Skar sich halb erhoben hatte, war er heran, packte ihn und schleuderte ihn quer durch den Raum. Skar prallte mit furchtbarer Wucht gegen die Wand neben dem Balkon, sank halb benommen zu Boden und kämpfte mit aller Macht gegen die Bewußtlosigkeit an, die seine Gedanken zu verschlingen drohte. Er hörte die Schritte des Quorrl und sah den Giganten als verzerrten Schatten auf sich zustampfen. Er wollte die Fäuste heben, um sich wenigstens zu wehren, aber seine Arme schienen plötzlich Zentner zu wiegen. Der Angriff war so vollkommen überraschend gekommen, daß er nicht die Spur einer Chance gehabt hatte.
Draußen auf dem Gang erscholl ein gellender Schrei. Waffen klirrten, und eine weitere schuppengepanzerte Gestalt erschien unter der Tür.
Wahrscheinlich war es das Auftauchen dieses zweiten Quorrl, das Skar das Leben rettete, denn der Reptilienkrieger rief seinem Kameraden etwas zu, woraufhin dieser mitten in der Bewegung innehielt und sich zu ihm herumdrehte, um ihm zu antworten. Und so kurz diese Frist war, sie reichte.
Es war, als rastete irgendwo tief in Skar etwas mit einem spürbaren Ruck ein, und plötzlich war die Kraft da, die er all die Zeit über so schmerzlich vermißt hatte. Die unsichtbaren Tonnengewichte an seinen Gliedern waren fort, der grausame Schmerz in seinem Rücken erlosch, nicht abgeschaltet, aber in einem Winkel seiner Wahrnehmungen zurückgedrängt, in dem er ihn nicht mehr behinderte. Von einer Sekunde auf die andere war Skar nur noch Satai.
Mit einem Ruck stemmte er sich in die Höhe und hob die Hände; die linke zur Faust geballt und gegen die Hüfte gepreßt, die andere lose und halb geöffnet vor der Brust kreisend. Jeder Muskel in seinem Körper war bis zum Zerreißen angespannt. Der Quorrl registrierte die Bewegung und griff übergangslos wieder an, aber Skar reagierte plötzlich mit einer Schnelligkeit, die er nicht erwartet hatte. Der Quorrl schlug nach seinem Gesicht, aber Skar drehte blitzschnell den Kopf zur Seite, so daß seine Faust gegen die Wand krachte. Der Quorrl schrie vor Schmerz, und Skar gewann einen weiteren, kostbaren Sekundenbruchteil. Seine Handkante traf den Kehlkopf des Quorrl mit aller Macht; ein Hieb, der einen Menschen auf der Stelle getötet hätte und selbst diesen Giganten aufstöhnen ließ.
Er beging nicht den Fehler, den Quorrl wirklich angreifen zu wollen. Der Schuppenkrieger wog mindestens doppelt so viel wie er und bestand nur aus Muskeln und stahlharten Panzerplatten. Selbst wenn Skar bewaffnet gewesen wäre, wäre der Ausgang dieses Kampfes höchst ungewiß gewesen. Aber er hatte seinen Gegner erschüttert und damit die winzige Frist gewonnen, die er brauchte. Skar tauchte blitzschnell unter den Armen des Quorrl hindurch, brachte zwei, drei Schritte Distanz zwischen sich und seinen riesenhaften Gegner und fuhr herum.
Der Quorrl stand noch immer neben dem Fenster und preßte seine Hand gegen die Kehle. Er atmete röchelnd. Blut lief über seine Schuppenhaut. Seine Hand mußte gebrochen sein, und das Atmen bereitete ihm sichtliche Mühe. Der zweite Quorrl war unter der Tür stehengeblieben und rührte sich nicht, nur sein Blick folgte mißtrauisch jeder Bewegung Skars. Wenn sie ihn gemeinsam angriffen, dachte er, dann war er verloren.
Aber das geschah nicht. Nach einer Sekunde drehte sich der zweite Quorrl wortlos herum und verschwand wieder auf dem Gang, offensichtlich vollkommen davon überzeugt, daß sein Kamerad allein mit Skar fertig werden würde.
Skar teilte diese Überzeugung sogar. Er hatte mehr als einmal gegen Quorrl gekämpft, und er hatte mehr als einen von ihnen getötet, aber da war er bewaffnet gewesen oder hatte zumindest Platz gehabt, um den einzigen Vorteil auszuspielen, den ein Mensch einem Quorrl gegenüber hatte: seine Schnelligkeit. Jetzt hatte er nichts als seine leeren Hände und ein Zimmer, das zwar groß war, aber nicht groß genug, um seinem Gegner davonzulaufen. Und selbst wenn es ihm gelang: draußen auf dem Gang wartete mindestens ein weiterer Quorrl auf ihn; dem Lärm nach zu schließen, den er hörte, sogar mehrere.
Skar hatte keine Angst. Dazu war er viel zu angespannt, sowohl körperlich als auch geistig. Sein Blick glitt über die riesige Gestalt des Quorrl, suchte nach einer Blöße, einem noch so winzigen Anzeichen von Schwäche oder Unaufmerksamkeit und fand keines. »Was soll das?« fragte er, nur um Zeit zu gewinnen. »Wieso greift ihr mich an? Ich gehöre zu euch!«
Der Quorrl antwortete nicht. Skar bezweifelte sogar, daß er seine Worte überhaupt verstanden hatte; vielleicht nicht einmal gehört. Der Quorrl war... nicht normal, dachte Skar alarmiert. Nicht im Sinne von verrückt, sondern... verändert. Was ihm gegenüberstand, war kein denkendes Wesen mehr. Die Wildheit in den Augen des Quorrl war die einer reißenden Bestie. Der Quorrl schien nur noch aus Haß zu bestehen. Sie sind Tiere, hatte Ennart gesagt.
Mit wiegenden, vorsichtigen Schritten kam der Quorrl näher. Er bewegte sich langsam, aber jeder Muskel in seinem gewaltigen Körper war angespannt, und seine Augen waren trotz der lodernden Mordlust darin hellwach und erschreckend klar. Seine Hände - sowohl die gesunde als auch die gebrochene - waren zu Krallen geöffnet und vor die Brust erhoben; die Beine des Quorrl waren gespreizt und leicht eingeknickt. Er hob die Füße kaum vom Boden, sondern schlitterte mehr auf Skar zu, als er ging. Reißende Bestie oder nicht: Skar begriff, daß der Quorrl die Kampftechnik, deren Verteidigungshaltung er eingenommen hatte, sehr wohl kannte und wahrscheinlich auch darauf zu reagieren wußte. Bedrückt dachte er an einen seiner Lieblingssätze zurück, die er Del immer und immer wieder eingebleut hatte: Wenn zwei Männer die gleiche Art zu kämpfen beherrschen und gleich gut sind, dann gewinnt am Schluß einfach der, der stärker ist oder die größere Ausdauer hat. Und er war nicht einmal sicher, ob dieser Quorrl wußte, was das Wort Erschöpfung bedeutete ...
Hastig wich er zwei, drei Schritte vor dem graugrünen Giganten zurück, prallte mit dem Rücken gegen die Wand und sah sich gehetzt um. Er saß in der Falle. Der Quorrl hatte ihn in eine Ecke des Zimmers getrieben, aus der es kein Entkommen mehr gab. Wenn er nach rechts auswich, würde er direkt in die tödlichen Klauen des Riesen laufen, und in der anderen Richtung war nur das Fenster und der kleine Balkon, der ...
Skar faßte keinen bewußten Plan, aber sein Unterbewußtsein wußte plötzlich ganz genau, was zu tun war, und es übernahm kurzerhand die Kontrolle über seine Handlungen. Er bewegte sich blitzschnell, und auf eine Art, die jeden Gegner überrascht hätte: ein angedeuteter Schritt nach links, den der Quorrl als Trick durchschaute und auch durchschauen sollte, eine blitzschnelle Bewegung nach rechts und eine blitzschnelle Drehung, die ihn mitten aus der Bewegung heraus abermals nach links und aus der Reichweite der fürchterlichen Krallen seines Gegners brachte.
Der Quorrl brüllte vor Zorn, als seine Hände ins Leere griffen, und kämpfte für eine halbe Sekunde um sein Gleichgewicht. Skar war mit einem Satz bei der Tür, stürmte auf den Balkon hinaus und warf sich zur Seite. Seine weit ausgestreckten Hände packten das dünne Ziergitter, während sein Körper einen grotesken Dreiviertel Salto in der Luft schlug und dann mit entsetzlicher Wucht gegen die Außenwand des Turmes prallte. Seine linke Hand glitt von dem dünnen Metall ab. Für einen schrecklichen Moment hing er nur an einer Hand über dem Abgrund, dann fanden seine Finger wieder Halt und drohten ein zweites Mal abzugleiten, als der gesamte Turm unter der Wucht zu erzittern schien, mit der der Quorrl gegen die Balkonbrüstung prallte. Der Quorrl brüllte vor Schrecken und Schmerz, wurde vom Schwung seines eigenen ungestümen Ansturmes weitergerissen und kippte mit hilflos rudernden Armen nach vorne. Er schrie. Seine Hände griffen verzweifelt um sich, bekamen für einen Sekundenbruchteil das Metallgitter zu fassen und glitten wieder ab. Mit einem gellenden Schrei stürzte der Quorrl an Skar vorbei in die Tiefe.