Skar öffnete behutsam die Augen und blinzelte in das grelle, schattenlose Licht des Turmes. Gestalten bewegten sich um ihn herum, redeten miteinander und taten etwas mit ihm. Sein Kopf tat ein wenig weh - nicht sehr, gerade genug, ihn daran zu erinnern, warum er das Bewußtsein verloren hatte - und in seinem Mund war der Geschmack von Blut. Vorsichtig versuchte er sich aufzusetzen und stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, daß es leichter ging, als er erwartet hatte.
In seiner linken Armbeuge war ein dünner, stechender Schmerz. Skar sah an sich herab und gewahrte einen durchsichtigen, biegsamen Schlauch, der sich über seinen Arm ringelte und in einer dünnen Nadel endete, die in seiner Vene stak. Angewidert riß er beides ab und warf es zu Boden. Die Belohnung waren ein weitaus heftigerer, brennender Schmerz in seinem Arm und ein unwilliger Ausruf einer der Gestalten, die mit ihm im Zimmer waren. Skar sah auf und blickte in ein Gesicht, das er im ersten Moment für das Ians hielt, bis ihm auffiel, daß es älter war und die Augen darin nicht so voller Haß und Zorn wie die Ians.
»Was tust du da?« herrschte ihn der Zauberpriester an. »Wie zum Teufel sollen wir...«
»Laß ihn, Cal«, unterbrach ihn eine Stimme. »Es ist gut. Ich mache das schon.«
Obwohl er die Stimme erkannt hatte, war er ein wenig überrascht, Anschi zu sehen. Mit einem Lächeln trat sie neben den Zauberpriester und machte eine rasche, besänftigende Bewegung. »Bitte laß uns allein.«
Cal zögerte. Aus irgendeinem Grund schien er Respekt vor Anschi zu empfinden, aber zugleich maß er Skar mit einem Blick, der ihm klarmachte, daß er ihn für gefährlich hielt und daß ihm der Gedanke nicht gefiel, die Errish mit ihm allein zu lassen. Aber schließlich zuckte er nur mit den Schultern und verließ den Raum.
»Bleib sitzen«, sagte Anschi, als Skar sich erheben wollte. Sie drehte sich zu einem kleinen Tischchen um, nahm eine blitzende Schale aus Metall und einige saubere Tücher an sich und kam auf ihn zu. Mit einem schnellen, harten Griff nahm sie seine linke Hand, drehte sie so herum, daß sie seine Armbeuge sehen konnte, und runzelte mißbilligend die Stirn. Wo die dünne Nadel gesessen hatte, quoll ein einziger Blutstropfen aus Skars Haut. Es tat sehr weh.
Was Anschi anschließend mit ihm tat, auch. Sie tupfte das Blut von seinem Arm, träufelte einige Tropfen einer farblosen, durchdringend riechenden Flüssigkeit auf seine Haut, die im ersten Moment wohltuend kühlten, dann aber wie Säure brannten, und legte ihm abschließend einen dünnen Verband an, der es ihm fast unmöglich machte, den Arm zu krümmen. Dann stand sie auf, betastete mit geübten Bewegungen seinen Rücken und murmelte ein paar Worte, die er nicht verstand und die vermutlich auch nicht ihm galten. Ihre Berührung fachte den Schmerz in seinem Rücken zu neuer Wut an, statt ihn zu mildern, aber Skar ließ alles mit zusammengebissenen Zähnen und ohne einen Laut über sich ergehen. Sie hatte ihm schon einmal bewiesen, daß sie vielleicht nicht besonders zartfühlend, aber nichtsdestotrotz eine gute Heilerin war.
Als sie fertig war, trat sie einen Schritt zurück und begutachtete ihn mit schräggehaltenem Kopf. »Deine Quorrl-Freunde haben dich ganz schön zugerichtet«, sagte sie. »Hast du Schmerzen?«
»Würde es dich zufriedenstellen, wenn ich ja sage?« gab Skar zurück.
Anschi ignorierte seine Antwort. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens nahm sie ein weißes Tuch vom Tisch und band es zu einer Schlinge, die sie ihm über die Schulter hing. Skar wollte protestieren, als sie seinen Arm ergriff und kurzerhand hineinlegte, aber Anschi berührte nur kurz eine Stelle unterhalb seines Schulterblattes, und er stöhnte vor Schmerz auf. Anschi blickte ihn fragend an, und Skar zwängte sich ein gepreßtes »Danke« ab.
»Wofür?« Die Errish trat abermals einen Schritt zurück und maß ihn mit einem langen, kopfschüttelnden Blick. »Du hast Glück, daß du noch lebst, weißt du das?«
Etwas war an dieser Frage nicht so harmlos, wie es klingen sollte, das spürte Skar. Er fragte sich, wieviel Anschi von dem wußte, was wirklich geschehen war. Und auf welcher Seite sie stand. Er zuckte nur mit den Achseln.
Anschi wirkte enttäuscht, hatte sich aber gut genug in der Gewalt, keine weitere Frage zu stellen, sondern sich für die nächsten Sekunden damit zu beschäftigen, so zu tun, als sortiere sie ihre Utensilien auf dem kleinen Tisch neben Skars Lager. Sie war eine gute Schauspielerin; aber nicht gut genug, Skar täuschen zu können. Er war plötzlich sicher, daß sie nicht hier war, um sich um sein Wohlergehen zu kümmern; abgesehen von allem anderen hätten Ian und seine Maschinen das wahrscheinlich ungleich besser gekonnt als sie. Sie war eine Heilerin, Ian ein Arzt. Und Skar begann allmählich zu begreifen, daß das ein größerer Unterschied war, als er bisher auch nur geahnt hatte. »Was ist passiert?« fragte er.
Anschi zuckte mit den Schultern und fuhr fort, Tücher und Instrumente von einer silbernen Schale in eine andere silberne Schale und zurück zu sortieren. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie. »Ein paar der Quorrl haben einfach durchgedreht, denke ich. Wundert dich das?« Sie hielt für einen Moment in ihrer unsinnigen Tätigkeit inne und sah ihn abschätzend an, ehe sie ihre eigene Frage beantwortete. »Ja, sicherlich wundert dich das. Du schätzt diese Tiere ja höher ein als menschliches Leben, nicht wahr?«
Skar überhörte die Beleidigung, nicht nur willentlich, sondern wirklich. Anschi log; und nicht einmal besonders gut. Es waren nicht nur ein paar Quorrl gewesen. Irgend etwas Gewaltiges, Grundsätzliches, das diesen ganzen Turm betroffen hatte, nicht nur die Quorrl. Er fragte sich, warum sie ihn belog, und noch dazu so offensichtlich.
»Ist Kiina unverletzt?«
»Natürlich«, antwortete Anschi. »Es geht ihr sogar besser als je zuvor.« Sie lächelte spöttisch. »Du liegst in ihrem Bett.« Skar fuhr hoch, was Anschis Lächeln noch ein wenig breiter und abfälliger werden ließ. »Wo ist sie?«
»In einem anderen Zimmer. Du kannst sie sprechen - später. Im Augenblick schläft sie.« Anschi machte eine unwillige Handbewegung auf die Liege, von der Skar so abrupt aufgesprungen war. »Du kannst gleich hierbleiben«, fuhr sie fort. »Ian brennt darauf, dich in die Finger zu bekommen ...«
»Das kann ich mir denken«, knurrte Skar.
»... um dir die gleiche Behandlung zuteil werden zu lassen wie ihr«, fuhr Anschi unbeeindruckt fort. »Sie ist wieder vollkommen gesund.«
Skar antwortete nicht, aber sein Blick schien eine sehr beredte Sprache zu sprechen, denn Anschi seufzte tief und irgendwie resignierend, fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar und machte eine müde Geste auf seinen linken Arm und das silberne Band um sein Gelenk. »Wie lange willst du das Ding noch tragen?«
»Glaubst du, daß es auf ein paar Stunden mehr oder weniger ankommt?«
»Es spielt keine große Rolle, was ich glaube. Du scheinst immer noch nicht zu glauben, daß du hier unter Freunden bist.« Sie seufzte wieder. Während sie sprach, hatte ihre Stimme jenen leicht singenden, halb resignierten Tonfall angeschlagen, in dem man mit einem störrischen Kind spricht. Sie wartete Skars Antwort auch gar nicht ab, sondern drehte sich zur Tür und machte eine einladende Geste.
»Du kannst mit Kiina reden, wenn du Angst hast, daß wir dich vergiften wollen«, sagte sie spöttisch. »Oder vielleicht verzaubern. «
»Sagtest du nicht gerade, daß sie schläft?«
»Wir wecken sie auf.«
Skars Mißtrauen war keineswegs beseitigt; und wie auch? Er hatte erlebt, wie mühelos Ennart und seine Zauberpriester den Willen eines Menschen zu brechen vermochten. Schließlich war auch Anschi nicht sie selbst; nichts an ihrer Stimme, ihren Bewegungen und Gesten und ihrem Blick erinnerte an einen Menschen, der nicht Herr seines Willens war, und doch war die junge Errish nicht mehr als eine Marionette, die Ennart zu ihm geschickt hatte, um...