»Nein«, sagte er mit fester Stimme. »Niemals.«
Du bist ein Narr, antwortete sein Dunkler Bruder. Seine Stimme klang bedauernd und fast gar nicht mehr höhnisch. Du glaubst noch immer, es verhindern zu können. Aber du wirst mich rufen. Bald.
»Niemals«, wiederholte Skar. »Hörst du?! NIEMALS!« Bald, Bruder, flüsterte der Daij-Djan.
Bald.
Es war wie das Erwachen aus einem bösen Traum. Skar erinnerte sich kaum, wie er den Weg zurück bewältigte; das letzte Stück führte ihn der Ssirhaa wie ein kleines Kind an der Hand. Er war unfähig, sich zu bewegen oder irgend etwas aus eigener Kraft heraus zu tun. Die Ausstrahlung des Blutkristalls hatte etwas in ihm gelähmt. Nur als sie die Statue des Daij-Djan passierten, mußte Skar all seine Willenskraft aufbieten, um nicht aufzuschreien und sich loszureißen. Obwohl er wußte, daß es nichts als toter Stein war, der schwarz und mörderisch über ihnen aufragte, die dürren Arme wie zu einem blasphemischen Gebet erhoben und ausgestreckt, hatte er das unheimliche Gefühl, von etwas hinter dem glatten Gesicht der Bestie belauert zu werden. Augen, die nicht da waren, starrten ihm nach.
Ennart blieb unter der Tür stehen und machte eine ungeduldige Geste zu Anschi, weiter zu gehen, hielt Skar aber zurück. »Du kennst dieses Wesen.«
Es war keine Frage. Skars Reaktion auf die Statue war zu deutlich, um sie zu übersehen, selbst für einen weniger aufmerksamen Beobachter, als der Ssirhaa es war.
»Ich ... nein. Es war ... ein Irrtum. Eine Verwechslung«, sagte Skar. Er sprach stockend, unsicher, mit einer Stimme, die vor Furcht bebte. Er verfluchte sich innerlich selbst, sich nicht besser in der Gewalt zu haben. Aber er war... erschüttert. Ein Teil seiner Seele hatte weißglühendes Eisen berührt. Verwirrt und erschüttert zugleich sah er Ennart an. Ob der Ssirhaa ahnte, wie nahe er dem Tod gewesen war?
»Belüg mich nicht«, sagte Ennart ärgerlich. »Du kennst dieses Ding. Was ist es?«
»Ich dachte, du wolltest mir etwas zeigen«, antwortete Skar. Er riß sich los, trat mit einem Schritt, der so schnell war, daß er mehr an eine Flucht erinnerte als an alles andere, unter der Tür hindurch und wartete, daß der Ssirhaa ihm folgte. Ennart zögerte. Sein Blick wanderte zwischen der riesigen schwarzen Statue, dem Altar und ihm hin und her, und Skar hätte in diesem Moment seine rechte Hand dafür gegeben, zu wissen, was hinter der Stirn des Goldenen vorging. Ennart mußte schon blind sein, um nicht zu sehen, wie sehr ihn dieser Raum und das, was er enthielt, erschütterte. Aber er schien auch zu begreifen, daß es die Statue des Daij-Djan war, die Skar lähmte. Nach einem Augenblick drehte er sich mit einer abrupten Bewegung herum, trat neben Skar und berührte die Wand.
»Also?« Ennarts Stimme war befehlend, in seinem Blick keine Spur von Geduld oder Freundlichkeit mehr. Trotzdem sagte Skar kein Wort, sondern ging mit erzwungen ruhigen Schritten weiter, bis sie zurück in Ennarts Gemach waren.
»Ich... bin einem ähnlichen Wesen begegnet«, sagte er ausweichend. »Es ist lange her.«
»Wo? Wann?« Ennarts Stimme war scharf wie ein Peitschenhieb. Skar spürte die Erregung des Ssirhaa. Auch für ihn mußte der Steinkoloß mehr sein als eine tote Statue. Ob er ahnte, dachte Skar, wie nahe er dem Tod gewesen war, dort drinnen? Kaum. Er zuckte mit den Schultern und bediente sich selbst aus Ennarts Weinkrug, um Zeit zu gewinnen. Seine Hände zitterten leicht, als er den Becher ansetzte. »Vor zwanzig Jahren«, antwortete er, nachdem er getrunken hatte. »Im Norden. Auf der Eisinsel des Dronte.«
»Dem Daij-Djan?« Ennarts Stimme machte deutlich, wie schwer es ihm fiel, Skars Worten Glauben zu schenken. »Und er lebte?«
»Ja«, sagte Skar. »Nein. Ich ... weiß es nicht.« Er hob hilflos die Schultern, setzte den Becher an und senkte ihn rasch wieder, ohne getrunken zu haben. Ennarts Atem ging schneller. Der Ssirhaa war aufs Höchste erregt.
»Ich habe es nur einen kurzen Moment lang gesehen«, log Skar. »Vielleicht war es auch nur eine Statue, wie die da drinnen. Ich weiß es wirklich nicht. Es ging alles so schnell, damals. Und es ist sehr lange her.«
Er sah Ennart so ruhig in die Augen, wie er konnte, aber das Mißtrauen des Ssirhaa war keineswegs beseitigt. Im Gegenteil. Und plötzlich fiel es Skar wie Schuppen von den Augen. Titch. Titch hatte es ihm gesagt, so, wie sein Vater ihm die Wahrheit über die Ssirhaa gesagt hatte. Unsere Götter sind wirklich, Skar. Wie hatte er nur so blind sein können? Wie hatte er sich jemals auch nur für eine Sekunde einbilden können, daß der Daij-Djan auf der Seite Ennarts und der Zauberpriester stand?
»Was hast du gesehen?« fragte Ennart. »Was war es?« Er schrie fast, aber seine Erregung überraschte Skar plötzlich nicht mehr. Es gibt ein Wort in eurer Sprache dafür, hatte Titch gesagt. Er ist für uns das, was für euch der Teufel ist.
Und wenn Ennart ein Gott war, dann war das Ding dort drinnen das Abbild seines Erzfeindes...
»Nicht viel«, antwortete er, langsam, vorsichtig, so, als müsse er sich zwingen, die Bilder aus der Vergangenheit heraufzubeschwören, in Wahrheit, um Zeit zu gewinnen. Ennart hatte einen Fehler begangen, ihn in den Tempel zu führen, aber er mußte sich jedes Wort genauestens überlegen, wollte er nicht einen ebensoschweren Fehler machen.
»Es ging alles so schnell«, fuhr er fort. »Es war plötzlich da, und dann...«
»Dann?«
»Der Dronte hat es verbrannt«, sagte Skar achselzuckend. »Es hat einige von unseren Leuten getötet, ehe der Dronte es angriff. Wie gesagt, es ging sehr schnell.«
»Verbrannt?« Ennarts Augen wurden schmal. »Du lügst! Niemand kann den Daij-Djan töten.«
»Er konnte es. Vielleicht hat er es auch nur vertrieben. Auf jeden Fall war es fort, als die Flammen erloschen.« Er nippte an seinem Wein und tat so, als blicke er nachdenklich auf den Rest der hellroten Flüssigkeit in seinem Becher. In Wahrheit beobachtete er Ennart aufmerksam aus den Augenwinkeln. Er hatte nie gerne gelogen, nicht einmal so sehr aus angeborener Ehrlichkeit, sondern aus der Erfahrung heraus, daß Lügen selten lange Bestand hatten und sich meistens gegen den kehrten, der sie aufbrachte. Aber seine Version der Geschehnisse hielt sich dicht genug an der Wahrheit, um Ennart vielleicht zu überzeugen, selbst wenn er wußte, was damals wirklich geschehen war. »Und danach nicht wieder?« fragte der Ssirhaa lauernd. Hatte Titch ihm erzählt, was in der Burg geschehen war?
Skar zuckte abermals mit den Schultern, füllte umständlich seinen Becher neu und stellte ihn zurück auf den Tisch, ohne zu trinken. »Wovor hast du Angst, Ennart?« fragte er.
»Angst?«
»Das Ding dort drinnen.« Skar deutete auf die geschlossene Tür hinter dem Ssirhaa. »Du hast mehr Angst davor als ich.«
»Unsinn.«
»Sie sind eure Feinde«, fuhr Skar fort. »Tausendmal mehr als wir es je waren. Sie sind es, die ihr wirklich fürchtet.«
Ennart schwieg, aber Skar wußte, daß er die Wahrheit getroffen hatte. Der Ssirhaa starrte ihn an, und zum zweiten Mal erkannte Skar, daß er seine Selbstsicherheit erschüttert hatte. Das Wesen mit der goldenen Haut war kein Gott, so wenig wie er. Es spielte ihn nur. Und das nicht einmal besonders gut.
»Wir haben sie besiegt«, sagte Ennart schließlich. »Lange, bevor es euch gab.«
»Besiegt?« Skar lachte so abfällig und höhnisch, wie er nur konnte. »O nein, Ennart. Ihr habt sie vertrieben. Eingesperrt. Aber nicht besiegt.«
»Wir haben sie geschlagen«, beharrte Ennart. »Es ist gleich, wie. Sie sind besiegt, für alle Zeiten.«