»Und trotzdem hast du vor Angst gezittert, als du gemerkt hast, daß ich den Daij-Djan kenne«, sagte Skar. »Du bist wahnsinnig, Ennart! Du willst, daß ich diese Macht dort drinnen entfessele? Vielleicht kann ich es sogar. Aber weißt du, was geschehen wird, wenn ich es tue?« Ennart wollte antworten, aber Skar sprach schnell und lauter und in einem Ton weiter, der selbst den Ssirhaa verstummen ließ. »Du hast Angst vor einer Statue, du Narr, und du willst, daß ich das Wesen zum Leben erwecke, nach dessen Vorbild sie erschaffen wurde?«
Ennart machte eine wütende Handbewegung. »Was für ein Unsinn. Die Macht dort drinnen ist uralt. Millionen von Jahren. Aber die Wesen, denen sie diente, existieren nicht mehr. Es sind nur... Reste. Wie dieser Turm hier, den unsere Vorfahren erbaut haben. Er existiert. Sie nicht mehr.«
Skar lachte. »Der Daij-Djan existiert sehr wohl, Ennart.« Du sprichst mit ihm.
»Du hast ihn also doch gesehen?« Ennarts Stimme wurde lauernd.
»Vor nicht einmal allzu langer Zeit«, bestätigte Skar. Um präzise zu sein, vor ein paar Augenblicken, fügte er in Gedanken hinzu. Dort drinnen, direkt hinter dir. Er sprach es nicht aus, aber er sah den Ennart scharf an. Wenn der Ssirhaa seine Gedanken las, dann mußte er sich spätestens jetzt verraten. Aber auf dem goldenen Gesicht regte sich nichts.
»Du lügst«, behauptete er.
»Wenn du meinst.« Skar zuckte in gespieltem Gleichmut mit den Achseln. »Warum fragst du nicht Titch, wenn du mir nicht glaubst?«
»Titch?«
»Er war dabei«, bestätigte Skar. »Er hat ihn so deutlich gesehen wie ich.« Er machte eine auffordernde Handbewegung zur Tür. »Ruf ihn. Falls er noch lebt, heißt das.«
Ennart wandte sich mit einer herrischen Geste an Anschi. »Laß den Quorrl zu mir bringen. Sofort.«
»Aber Herr«, wandte Anschi ein. »Sie sind -«
»Sofort habe ich gesagt!« unterbrach sie Ennart zornig. »Es ist mir gleich, wo sie sind. Bring ihn hierher, auf der Stelle! Und du -« Er wandte sich mit einer kaum weniger zornigen, befehlenden Bewegung an Skar, »- solltest dir überlegen, ob du mir nicht vielleicht doch etwas verschwiegen hast, Satai.«
»Sicher«, antwortete Skar ungerührt. »Es gibt da ein paar Frauengeschichten, die -«
Ennart trat auf ihn zu. Er tat nichts, ballte weder die Faust, noch hob er den Arm, aber allein dieser eine Schritt war so drohend, daß Skar mitten im Wort verstummte. Er hatte keine Angst, aber er hatte auch wenig Lust, erschlagen zu werden, nur wegen einer dummen Bemerkung. Es war plötzlich sehr wichtig geworden, daß er lebte. Viel wichtiger, als Ennart ahnte. »Du hast zwei Stunden Zeit«, sagte der Ssirhaa kalt. »So lange wird die Errish brauchen, um deinen Freund hierher zu bringen. Und danach wirst du mir alles sagen, was du über den Daij-Djan und die Alten weißt. Alles, verstehst du?«
»Und wenn nicht?« fragte Skar spöttisch. »Was willst du tun, alter Mann? Mich foltern?«
»Nein«, antwortete Ennart kalt. »Nicht dich. Das Mädchen.«
6.
Skar befand sich in einem Zustand tiefster Erschütterung, als Ian und seine Männer ihn in sein Zimmer zurückbrachten. Die Ruhe während der Unterhaltung mit Ennart war nur gespielt gewesen. In ihm brodelte es. Alles hatte sich geändert, von einer Sekunde auf die andere; jetzt, wo er wußte, welche Mächte Ennart und seine Brüder heraufzubeschwören versuchten. Es ging plötzlich nicht mehr um die Macht auf Enwor, sondern um mehr. Unendlich viel mehr. Dort unten, in dem schwarzen Tempel unter den Grundmauern des Turmes, hatte er begriffen, daß selbst Ennart und die mit ihm verbündeten Zauberpriester aus dem Süden nichts als Marionetten waren, ahnungs- und willenlose Sklaven einer Macht, von deren Existenz sie nicht einmal etwas ahnten. Und er mußte sie aufhalten, ganz egal, wie. Und sei es um den Preis seiner eigenen Niederlage.
Vorerst beschränkten sich seine Aktivitäten allerdings darauf, ruhelos wie ein gefangenes Raubtier im Käfig in seinem Zimmer auf und ab zu gehen und sich selbst, das Schicksal und vor allem den Ssirhaa lautlos zu verfluchen. Er war verzweifelt genug, einen gewaltsamen Ausbruch zu riskieren, aber Ennart schien die Wirkung vorausgeahnt zu haben, die der Anblick des Tempels auf ihn gehabt hatte. Die Tür wurde zum ersten Mal, seit er hier heraufgebracht worden war, hinter ihm geschlossen, und alles Klopfen und Rufen half nichts: Er war nun auch äußerlich ein Gefangener.
Es vergingen mehr als zwei Stunden, ehe der Ssirhaa zu ihm kam. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten, als sich die Tür seines Gefängnisses wieder öffnete und Ennart eintrat. Anders als bisher kam der Ssirhaa diesmal nicht allein, sondern in Begleitung Ians und dreier weiterer Zauberpriester, die mit drohend erhobenen Schläfern unter der Tür stehenblieben. Er schien zu ahnen, daß Skar verzweifelt genug war, selbst einen direkten Angriff auf ihn in Betracht zu ziehen. Hinter dem Ssirhaa und seiner Wache betraten Anschi und Titch den Raum.
Skar erschrak, als er den Quorrl sah. Titch war nicht gebunden, aber er war ein Gefangener. Er bewegte sich wie in unsichtbaren Ketten, und sein Blick irrte unstet und wild durch den Raum, verharrte nur einen Sekundenbruchteil auf Skars Gesicht und huschte weiter. Skar hatte das Gefühl, einem Wesen gegenüberzustehen, das nur noch aus Angst bestand.
»Es gibt da einiges, was du mir bisher verschwiegen hast«, begann Ennart übergangslos. Er hatte mit Titch gesprochen. Und zweifellos hatte er alles erfahren, was der Quorrl wußte. Skar fragte sich nur, wieviel es war.
»Dann sind wir ja wieder quitt«, antwortete er störrisch. »Für jemanden, der mir sein Wort gegeben hat, mich nicht zu belügen, hast du mir eine Menge verschwiegen.«
Ian setzte zu einem zornigen Schritt in seine Richtung an, aber der Ssirhaa hielt ihn mit einer nur angedeuteten Geste zurück. »Etwas verschweigen und lügen ist nicht dasselbe«, sagte er. »Für mich schon.«
Ennart seufzte. »Ich bin nicht gekommen, um zu streiten«, sagte er.
Skar suchte Titchs Blick. Der Quorrl wich ihm noch immer aus, aber Skar erkannte jetzt, daß er verletzt war. Nicht schlimm - keine seiner Wunden war so, daß sie ihn auch nur behindert hätte. Aber in ihrer Vielzahl sprachen sie eine beredte Sprache. Der Quorrl hatte die Nacht nicht in einem Kerker oder in Ketten verbracht, wie er halbwegs angenommen hatte, sondern auf der Flucht. Sein goldener Schuppenpanzer war verbeult und voller Staub und Schmutz, und die Haut dort, wo sie nicht von zerkratztem Gold geschützt war, voller Schrammen und kleiner, mehr oder weniger harmloser Wunden. Die Schwertscheide an seinem Gürtel war leer, wies aber deutliche Schrammen und Scharten auf, als hätte er versucht, sie anstelle der Waffe zur Verteidigung zu benutzen, die sie enthalten sollte.
»Was habt ihr mit ihm gemacht?« fragte er zornig.
»Das spielt keine Rolle«, schnappte Ennart. »Wir -«
»Du erfährst kein Wort von mir«, unterbrach ihn Skar. »Nicht, solange ihr Titch nicht freilaßt.«
»Ihn freilassen?« Ennart lachte leise. »Aber wie kann ich das? Er ist kein Gefangener.« Mit einer spöttischen Bewegung drehte er sich zu Titch um und winkte ihm, an seine Seite zu treten. Der Quorrl gehorchte. Seine Bewegungen hatten nichts mehr von der kraftvollen Eleganz, die Skar immer so an ihm bewundert hatte. Sie wirkten hölzern. Wie die einer Puppe. Für einen Moment war er überzeugt, daß Ennart nun auch Titchs Willen gebrochen hatte, wie den Anschis und der anderen Errish. Aber die Augen des Quorrl waren klar. Titch war ein gebrochener Mann; aber es war nicht der Ssirhaa, der dafür verantwortlich war.