Sie gingen weiter. Es erwies sich als fast unmöglich, die Lücke im Felsen zu durchqueren, denn der Stein glühte noch immer, und Skar zog sich ein halbes Dutzend zwar harmloser, aber sehr schmerzhafter Verbrennungen an Armen und Beinen zu, während er mit zusammengebissenen Zähnen hinter Anschi herlief. Er hatte instinktiv erwartet, auf eine Fortsetzung der Katakomben zu stoßen, aber nachdem sie die Felswand durchschritten hatten, fanden sie sich unvermittelt in einem niedrigen, aus grauem Stein gemauerten Gewölbe wieder: älter als der Turm, aber längst nicht so alt wie der Tempel der Alten. Einem Keller, vielleicht sogar einem Verlies, das ganz gewiß nicht Teil des uralten Labyrinths war. Vor ihnen erstreckte sich die flammende Spur des Ungeheuers, aber sie glühte längst nicht mehr so grell wie drüben im Nischengang, und in einiger Entfernung begannen sich die Fußabdrücke sogar zu verlieren; waren keine kochenden Seen aus brennender Lava mehr, sondern nur noch rote, schließlich mattleuchtende Stapfer auf dem feuchten Boden. Sie führten zu einer Treppe, deren Stufen sich in grauer Ungewißheit verloren.
Obwohl sie jetzt nicht mehr mit der Glut der Hölle in den Fels eingebrannt war, verloren sie die Spur des Dämons nicht, denn wo seine Füße den Boden berührt hatten, dampfte er noch: sie folgten der Treppe, die gute zwei Dutzend Stufen weit in die Höhe führte, durchquerten einen weiteren, anscheinend vollkommen leeren Raum und fanden sich plötzlich unter einer niedrigen Kuppel wieder, die sich gänzlich von der unterschied, die sie gerade durchquert hatten. Ihre Wände bestanden aus graubraunem Fels, der aber kaum mehr zu sehen war, denn sie war mit geradezu verschwenderischer Pracht ausgestattet - wohin Skar auch blickte, sah er goldenen und silbernen Zierrat, Schmuck und Teller und Krüge aus edlen Metallen, Kerzenständer und tausend andere Dinge, alle aus den alleredelsten Materialien gefertigt. Hunderte von Kerzen tauchten den Raum in fast taghelles Licht. In der Mitte des kleinen Raumes stand eine Art steinerner Altar, aus einem einzigen, gewaltigen Felsbrocken herausgemeißelt. Aber auch er war kaum als solcher zu erkennen, denn er war über und über mit bestickten Decken und Gold und Silber und allen nur denkbaren Opfergaben übersät. Auf der anderen Seite der Kammer sah Skar die Stufen einer steinernen Treppe, die zu einer nur halb geschlossenen Tür aus mattem Stahl hinaufführten. Dort oben mußte wieder jener Bereich des Turmes beginnen, den Ennart und seine Zauberpriester beherrscht hatten.
Anschi erschrak bis ins Mark, als sie all diese Pracht erblickte. Trotz des unnatürlichen Lichtes, das dieses Meer von Kerzen schuf, sah Skar, wie sie erbleichte. Ihre Augen wurden dunkel vor Furcht.
»Was hast du, Anschi?« fragte er alarmiert. »Du kennst diesen Raum also doch?«
Anschi nickte. Die Bewegung wirkte so abgehackt, als koste sie ihr unendliche Kraft.
»Der... Gebetsraum«, stammelte sie. »Das hier ist... der Gebetsraum der Margoi. Hierhin zog sie sich zurück, um zu meditieren und... mit den Göttern zu sprechen. Und zu den Drachen!«
Skar sah die Errish verständnislos an.
»Den Drachen?«
»Ja, begreifst du denn immer noch nicht?« Plötzlich sprang sie auf Skar zu, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn wild. »Er will zu ihnen!« schrie sie. »Er will sie, nicht uns!« Ihre Worte trafen Skar wie ein Schlag ins Gesicht. Er hatte niemals darüber nachgedacht, und im Grunde war es ihm sogar herzlich egal, woher die Macht der Margoi kam, aber wenn Anschis Worte der Wahrheit entsprachen, dann...
Ja, dachte er schaudernd, dann konnte das durchaus das Ende der Welt sein.
Sie konnten die Zauberpriester besiegen. Sie konnten die Quorrl schlagen, und sie konnten vielleicht sogar die Ssirhaa besiegen, aber die Drachen ...
Skar weigerte sich einfach, den Gedanken zu Ende zu denken. Sie konnten Krieg gegen denkende Wesen führen und ihn vielleicht gewinnen, auch wenn sie gegen Zauberei und uralte Magie antreten mußten. Die Drachen würden wie eine neue Sintflut aus Feuer und Tod über Enwor hereinbrechen und sie einfach davonfegen.
Verzweifelt rannten sie los, die ausgetretenen Stufen hinauf, einen weiteren, von zahllosen Kerzen erhellten Gang entlang, dann wieder eine Treppe... das stählerne Labyrinth des Turmes erwies sich dem des Dämons als beinahe ebenbürtig, nicht in seiner Größe, wohl aber in seiner Kompliziertheit. Hätten sie nicht ab und zu eine dampfende Stelle auf dem Boden, ein Stück verschmorten Teppichs oder einen Hauch von Hitze und Schwefelgestanks gespürt, sie hätten die Spur des Ungeheuers zweifellos binnen weniger Augenblicke verloren. Aber auch so irrten sie mehr als zehn Minuten durch das Gewirr von Treppen, Gängen, Katakomben und Kellern, und Anschis Verzweiflung stieg im gleichen Maße, in dem Skars Mut sank. Abermals fragte er sich, wie um alles in der Welt sie das Ungeheuer aufhalten wollten, selbst wenn es ihnen wirklich gelang, es einzuholen, und abermals fand er keine Antwort. Die Macht seines Dunklen Bruders würde ihm nicht helfen. Sie reichte nicht aus.
Dann stürmten sie durch eine schmale Tür - und fanden sich unvermittelt in einer gewaltigen, rechteckigen Halle aus schwarzem Metall wieder. Skar blieb abrupt stehen und sah sich um. Er hatte dieses ungeheuerliche Bauwerk bisher nur von außen gesehen und aus der verzerrenden Perspektive seines Fensters heraus, aber jetzt, als er in ihm stand, unter dem titanischen Dach, das sich wie ein stählerner Himmel über ihnen spannte, kam es ihm noch viel, viel größer vor. Er fühlte sich erschüttert, allein durch den bloßen Anblick, winzig und hilflos und schwach. Sie wollten gegen ein Volk kämpfen, das dies hier erschaffen hatte? Lächerlich.
Sie waren nicht allein. Die Katastrophe hatte Ians Brüder in Scharen hierhergetrieben; es mußten Hunderte sein, die kopflos durcheinanderrannten. Aber auch ebenso viele, die auf den metallenen Fliesen auf die Knie gefallen waren und... beteten? dachte Skar verblüfft. Nein, das war es nicht. Sie hockten da, nach vorne gebeugt und zum Teil mit erhobenen Händen, aber ihre Gesichter waren starr, wie in Trance versunken. Es war etwas Ähnliches wie das, was die Mädchen getan hatten, in jener schrecklichen Nacht an der Küste. Sie versuchten das Ungeheuer zu bannen, dachte er. Aber er wußte auch, daß sie es nicht schaffen würden. Es war leichter, ein Feuer zu legen, als es zu löschen.
Plötzlich fuhr Anschi zusammen, prallte zurück und zerrte ihn hastig in den Schatten der Tür. »Ian!« flüsterte sie.
Skar sah verwirrt in die Richtung, in die ihr ausgestreckter Arm deutete - und sog ebenfalls erschrocken die Luft ein. Zwischen den Zauberpriestern bewegte sich eine hochgewachsene, schlanke Gestalt mit schütterem hellem Haar.
»Wie, zum Teufel, ist er so schnell da rausgekommen?« flüsterte Anschi verstört.
Vielleicht ist er es gar nicht, dachte Skar. Aufmerksam musterte er den Zauberer. Es war Ian. Sein Gesicht war unverkennbar, seine Bewegungen, seine Art, die Worte mit kleinen, befehlenden Gesten zu unterstreichen - es gab keinen Zweifel. Und doch war es unmöglich ...
Er signalisierte der Errish mit Gesten, weiterzugehen. Schnell, aber ohne zu rennen, bewegten sie sich durch die Halle, wobei ihnen der Umstand zugute kam, daß die Spur des Dämons dicht an der Rückwand entlangführte und unter den Zauberpriestern eine solche Verwirrung herrschte, daß niemand von ihnen Notiz zu nehmen schien.
Trotzdem ertappte sich Skar ein paarmal dabei, wie er über die Schulter zu Ian zurücksah. Wenn schon nicht die anderen, so würde er sie ganz bestimmt erkennen. Skar verstand ohnehin nicht, warum er nicht längst Alarm ausgelöst und zumindest einen Teil seiner Männer zur Jagd auf die entflohenen Gefangenen abgestellt hatte.