Fragend sah er Titch an. Der Quorrl und er waren allein. »Er wird... gleich kommen«, sagte Titch unsicher. Er wich seinem Blick noch immer aus, aber er hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, um völlig zu verbergen, wie peinigend es für ihn war, mit ihm zu reden.
»Ich verstehe«, sagte Skar spöttisch. »Er ist ein vielbeschäftigter Mann, der nicht viel Zeit für einen armseligen Satai wie mich erübrigen kann, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf, maß den Raum mit einem weiteren, sehr viel aufmerksameren Blick, ohne indes mehr Einzelheiten als zuvor zu erkennen, und trat schließlich an eines der deckenhohen Fenster heran. Es war nicht offen, wie er geglaubt hatte. In der Füllung befand sich Glas, das allerdings so klar war, daß er es nicht einmal sah, als er unmittelbar davor stand, sondern nur fühlte. Neugierig beugte er sich vor, so weit es der unsichtbare Widerstand zuließ.
Skar wußte sofort, wo er war, obwohl er den Turm niemals wirklich gesehen hatte. Unter ihm breitete sich ein quadratischer, an drei Seiten von stählernen, sicherlich hundertfünfzig Fuß hohen Wänden umschlossener Innenhof aus. Winzige Gestalten bewegten sich darauf, aber sie waren zu klein, um sie zu erkennen, und das Fenster verschluckte jedes Geräusch. Das emsige Treiben unter ihm war stumm. Die Bewegungen der Menschen und Tiere im Hof verliefen in absolutem Schweigen, und es war eine Art von Stille, die Skar sich fürchten ließ, denn es nahm der Bewegung dort unten gleichzeitig auch etwas von ihrem Leben. So, wie die titanischen Flanken des Turmes alles Licht aufsaugten, so daß man sie selbst aus unmittelbarer Nähe gar nicht richtig sehen konnte, sondern vielmehr durch die Abwesenheit alles Sichtbaren erahnte, so schien auch etwas alle Geräusche zu verschlucken. Es war eine Stille, die Skar an den unheimlichen Zauber erinnerte, dem er im Lager der Errish begegnet war. Und es war der Turm aus seinen Träumen. Die Quelle des tödlichen Flüsterns, das ganz Enwor in Brand gesetzt hatte.
Er hörte Titchs Schritte hinter sich und suchte ganz automatisch nach einer Spiegelung in der Fensterscheibe, sah aber nur den stahlblauen Himmel über dem Tal. Kopfschüttelnd drehte er sich herum.
Es war nicht mehr Titch, der hinter ihm stand.
Der Quorrl befand sich noch im Zimmer, aber er war zur Tür zurückgewichen und hatte seinen Platz einer Gestalt geräumt, die selbst ihn um mehr als Haupteslänge überragte. Anders als am Abend zuvor trug das Wesen nicht mehr die bizarre Rüstung, sondern ein einfaches, vollkommen schmuckloses Gewand aus schwarzem und blauem Stoff, das den größten Teil seines Körpers verhüllte und nur Kopf und Arme freiließ. Aber dieses schlichte Gewand nahm der Erscheinung nichts; im Gegenteil. Obwohl Skar geglaubt hatte, auf den Anblick vorbereitet zu sein, erschütterte er ihn fast noch mehr als beim ersten Mal, denn er war Ennart jetzt näher, und er sah ihn im hellen Tageslicht, nicht im flackernden Schein eines erloschenden Feuers.
Der Gott der Quorrl war über acht Fuß groß und so muskulös, daß selbst Titch neben ihm wie ein Kind wirkte, dabei aber so perfekt proportioniert, daß er nicht wie ein Riese aussah. Alles an ihm war perfekt, eine vollkommene Harmonie von Kraft und Schönheit, die es selbst Skar für Sekunden unmöglich machte, irgend etwas anderes zu tun, als einfach dazustehen und dieses Wesen zu bewundern. Ennarts Gesicht war eindeutig das eines Quorrl, aber es hatte einen edlen und trotz seiner Kraft fast sanften Zug, dem auch das fürchterliche Raubtiergebiß hinter seinen Lippen nichts anzuhaben vermochte. Seine Augen waren groß und dunkel und ohne sichtbare Pupillen, wie die Titchs, aber sie waren gleichzeitig... anders. Weiser? Skar weigerte sich einen Moment, das Wort zu benutzen, aber es gab keinen anderen Ausdruck, der gepaßt hätte. Er suchte vergeblich nach der abgrundtiefen Bosheit, die er erwartet hatte. Was er spürte, war die Nähe eines Wesens, das unendlich alt und unendlich mächtig war und das ihn durch seine bloße Anwesenheit zu lähmen drohte, so wie beim ersten Mal. Ennart war ein Geschöpf, das nicht Macht symbolisierte, sondern Macht war.
Länger als eine Minute stand er einfach da und starrte das Wesen mit der goldenen Haut an, unfähig, etwas zu sagen, sich zu bewegen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ennart rührte sich nicht, sondern blieb reglos stehen, wie um ihm Gelegenheit zu geben, ihn in aller Ruhe zu mustern. Aber es war etwas sonderbar Störendes in dieser Reglosigkeit; vielleicht etwas in seinem Blick. Seine Geduld erinnerte Skar an die eines Menschen, der sich nicht rührt, um das Vertrauen eines eingeschüchterten Tieres zu gewinnen.
Schließlich hob Ennart die Hand und machte eine Bewegung in Titchs Richtung, bei der er Skar jedoch nicht aus den Augen ließ. Skar begriff erst jetzt, daß er ihn ebenso interessiert gemustert hatte wie er selbst umgekehrt ihn. »Laß uns allein, Titch.« Der Quorrl entfernte sich rückwärts aus dem Raum, aber Ennart schwieg weiter, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem milden, aber gleichzeitig auch ein ganz kleines bißchen überheblich wirkenden Lächeln. »Wie fühlst du dich, Skar?«
»Danke«, antwortete Skar kalt. »Es geht mir gut.«
»Ich frage nicht aus Höflichkeit«, sagte Ennart. »Es freut mich wirklich, dich unverletzt zu sehen. Aber du bist krank. Wir haben deine Schmerzen besiegt und deinem Körper geholfen, die Schwäche zu überwinden. Aber das ist nicht mehr als eine Täuschung. Es wird noch lange dauern, bis das Gift aus deinem Körper verschwunden ist.«
»Lange genug, mich hier festzuhalten, bis ihr gewonnen habt?« fragte Skar höhnisch.
Ennart seufzte. Skars Spott schien ihn mehr zu betrüben als zornig zu machen. »Das haben wir bereits«, antwortete er. »Schon vor langer Zeit. Du kannst uns nicht aufhalten.«
»Dann frage ich mich, warum ihr euch so große Mühe gemacht habt, mich zu fangen«, sagte Skar.
»Weil du unsere Pläne störst«, antwortete Ennart unverblümt, aber noch immer in freundlichem Ton. »Und weil wir dich brauchen. Nicht notwendig, um zum Ziel zu kommen, aber es wäre einfacher mit dir als ohne dich, und sehr viel leichter als gegen dich.« Er machte eine einladende Geste auf einen der Stühle, die Skar ignorierte.
»Und jetzt bist du gekommen, um mich zu überzeugen, wie?« fragte Skar.
Ennart schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Ich bin kein Narr, Skar. Und ich kenne dich zu gut, um versuchen zu wollen, dich zu irgend etwas zu zwingen. Ich weiß, daß das unmöglich ist.«
»Warum bist du dann hier?« schnappte Skar. Er spürte, daß er die Auseinandersetzung bereits verloren hatte, noch ehe sie richtig begann. Ennarts bloßes Dasein drängte ihn in die Defensive. Aber er versuchte vergeblich, Zorn zu empfinden. Alles, was er fühlte, war Hilflosigkeit.