Die Errish warf sich mit weit ausgebreiteten Armen zwischen ihn und Ian und fing den Schwertstreich mit ihrem eigenen Leben ab.
Skar vergaß das Geräusch nie mehr, mit dem Ians Schwert ihre Brust durchbohrte. Anschi keuchte, umklammerte mit beiden Händen die Klinge des anderen, stand einen Moment vollkommen reglos und brach dann ohne einen Laut in die Knie.
Irgend etwas in Skar zerbrach. Er spürte, wie sich Hände nach ihm ausstreckten und ihn zu halten versuchten, sehr viele, sehr starke Hände, aber er schüttelte sie einfach ab. Ein Faustschlag traf seinen Nacken. Er spürte ihn nicht einmal. Mit einem Satz war er bei Ian und schlug ihm die gefalteten Fäuste in den Leib. Der Zauberpriester gurgelte, krümmte sich vor Schmerz und kippte lautlos zur Seite, als Skars Handkante seinen Hals traf. Sein Schwert fiel mit einem hellen Scheppern zu Boden und rutschte davon.
Fast im gleichen Moment flammte der Scanner einer der beiden Errish auf und verwandelte den Mann unter der Tür in ein zerberstendes Schemen aus Licht und Hitze.
Skar ließ den beiden anderen keine Chance. Mit einer wütenden Bewegung zerrte er Ian wieder in die Höhe, warf ihn gegen einen der Krieger und schlug ihn vollends nieder, ehe dieser noch begriff, was geschah. Der andere versuchte seine Waffe zu ziehen, aber seine Bewegung war viel zu langsam; Skar packte seinen Arm, verdrehte ihn und schlug dem Mann die Handkante in den Nacken, als er sich vor Schmerz krümmte. Dann war er wieder über Ian, riß ihn ein zweites Mal in die Höhe und schmetterte ihn gegen die Wand. Seine Faust traf Ians Gesicht mit der Kraft eines Hammerschlages und brach etwas darin. Blut schoß aus Ians Nase und Mund. Ian keuchte vor Schmerz, versuchte die Hände zu heben und gleichzeitig nach ihm zu treten, aber Skar bemerkte beides kaum. So, wie er vor Augenblicken unfähig gewesen war, sich zu bewegen, konnte er plötzlich nicht mehr aufhören. Es war wie der Einfluß seines Dunklen Bruders, der ihn zwang, zu kämpfen und zu töten, bis nichts mehr zu bekämpfen und zu töten da war, und gleichzeitig war es schlimmer, ein Blutrausch, der ihn packte, eine völlig neue, schreckliche Art von Haß, der aus ihm selbst kam, nicht aus den flüsternden fremden Gedanken des Turmes.
Wahrscheinlich hätte Skar Ian getötet, hätte er in diesem Moment nicht ein qualvolles Stöhnen hinter sich gehört.
Er fuhr herum, sah, wie sich Anschi mit schmerzverzerrtem Gesicht aufzurichten versuchte, und war mit einem Satz bei ihr. Hinter ihm brach Ian vollends zusammen und blieb wimmernd liegen, und eine der beiden Errish kniete neben Anschi nieder und streckte die Arme nach ihr aus. Skar schlug ihre Hand beiseite und fing Anschi auf, als sie nach vorne kippte.
»Anschi!« schrie er. »Du -«
Er sprach nicht weiter, als er die entsetzliche Wunde sah, die in Anschis Brust klaffte. Plötzlich wußte er, daß sie sterben würde. Jetzt.
»Verschwinde, Skar«, flüsterte Anschi mit brechender Stimme. »Sie ... kommen zurück. Sie werden dich töten, wenn sie dich finden.«
Vorsichtig kniete Skar vollends neben ihr nieder, nahm sie sanft in die Arme und sah ihr ins Gesicht. Aller Schmerz war mit einem Male aus Anschis Zügen verschwunden, und alles, was er noch in ihren Augen las, war ein Ausdruck tiefen, verzeihenden Friedens. Er wollte schreien, aber er konnte es nicht. Er war dem Tod so oft begegnet, aber er war ihm nie so ungerecht, so ... überflüssig vorgekommen wie jetzt.
»Da ist noch etwas, Skar«, begann Anschi.
»Nicht«, sagte er. »Sprich nicht. Wir bringen dich weg hier. Du schaffst es.« Er sah auf, blickte die beiden jungen Errish neben sich fast flehend an, aber die Antwort, auf die er wartete, kam nicht. Nach einer Sekunde sahen sie beide weg.
»Der... Ring«, flüsterte Anschi. »Ennarts ... Sklavenring. Er hat... die Wahrheit gesagt.«
Es dauerte einen Moment, bis Skar überhaupt begriff, wovon sie sprach. Dann hob er den linken Arm und betrachtete das schmale silbrige Band, das sich um sein Gelenk spannte. Er hatte sich bereits so an sein Dasein gewöhnt, daß er es schon gar nicht mehr bewußt zur Kenntnis nahm.
»Ich wollte es dir... später... sagen«, fuhr Anschi fort. Das Sprechen fiel ihr immer schwerer. Ein dünner Blutfaden lief aus ihrem Mundwinkel und das Kinn hinab. Skar streckte behutsam die Hand aus und wischte ihn fort.
»Er... schützt dich, so lange... du ihn... trägst«, stöhnte Anschi. »Aber das Gift ist noch... noch immer in deinem... Körper. Du wirst... sterben, wenn du ... ihn entfernst...«
»Ich weiß«, sagte Skar.
Anschi schüttelte schwach den Kopf. »Nein, du weißt... nichts. Du stirbst auch, wenn... du ihn trägst. Geh zu... den Quorrl. Geh dorthin, wo... wo Miri war. Das Wasser der Quorrl... kann dich ... retten.«
Skar legte sanft die Hand auf ihre Lippen, aber Anschi schob sie beiseite. Ihre Augen begannen zu brechen. »Siehst du, Satai«, flüsterte sie. »Du hast mir... das Leben ... gerettet. Aber jetzt habe ich ... meine Schulden ... bezahlt.«
Das waren ihre letzten Worte, ehe sie in Skars Armen starb.
10.
Die peitschenden Schwingen der Daktylen trugen sie nach Norden, weiter auf ihrem unterbrochenen Weg ins Land der Quorrl und der Toten. Sie blieben nicht zusammen; nach nur wenigen Augenblicken löste sich einer der Drachenvögel aus ihrer kleinen Formation und kippte nach Westen und gleichzeitig in die Tiefe ab, und ohne daß Skar sich nach der Errish umdrehte, wußte er, wohin sie flog: ihr Ziel war ein schmaler, tief eingeschnittener Felsspalt unweit des Turmes, vor dem es nun keine unsichtbare Barriere mehr gab. Er wußte nicht, ob es den Drachen gelingen würde, den Turm zu zerstören. Er wußte nur, daß er das Mädchen wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde, und er sollte recht behalten.
Die Festung blieb rasch hinter ihnen zurück, aber Skar nahm kaum Notiz von dem riesigen Turm, obwohl er ihn jetzt das erste Mal von außen und in voller Größe sah, und vielleicht zum letzten Mal. Dichte Rauchschwaden umgaben den schwarzen Würfel aus Stahl, und als sie sich weiter entfernt hatten, sah er, daß seine Flanken von kleinen und großen roten Pusteln übersät waren, wie von feurigem Ausschlag. Der Anblick erinnerte ihn auf entsetzliche Weise an den Flammenleib des Dämons, dem sie in seinen Kellern begegnet waren. Aber auch an Anschi. Der Tod der Errish ging ihm nahe; viel näher, als er erwartet hatte. Nach allem hätte Anschi vielleicht nicht sein Feind, aber doch alles andere als jemand für ihn sein müssen, der ihm nahe stand. Trotzdem fühlte er sich wie gelähmt, auf eine Art betäubt, die tief ging und sehr schmerzhaft war. Vielleicht war es die Tatsache, daß sie sich geopfert hatte, um sein Leben zu retten, vielleicht waren es auch ihre letzten Worte gewesen: Ich habe meine Schulden bezahlt.
Und wann und vor allem: womit würde er seine Schulden bezahlen? Mit seinem Leben? Lächerlich. Ein Menschenleben reichte längst nicht mehr, um wettzumachen, was er so vielen schuldete.
Der Flug in die Berge, die das Tal der Drachen wie eine allseits geschlossene Mauer umgaben, dauerte den ganzen Tag. Sie rasteten einmal, um den Daktylen eine Pause zu gönnen und sich selbst ein wenig zu stärken. Skar wechselte in dieser Zeit kein Wort mit der Errish, die die zweite Daktyle flog. Sie saßen dicht nebeneinander, enger, als nötig gewesen wäre, und nach einer Weile lehnte sich das Mädchen an seine Schulter. Er spürte, wie es lautlos zu weinen begann, aber er sagte auch dann noch nichts, sondern legte einfach nur den Arm um ihre Schulter und wartete, bis sie sich beruhigt hatte und ihm mit Gesten zu verstehen gab, daß es Zeit war, wieder aufzubrechen. Er war nicht sicher, ob es nur die Trauer um Anschi und ihre Schwester war, die das Mädchen hatte weinen lassen. Vielleicht war Anschi nicht die einzige gewesen, die begriffen hatte, daß auch die Geschichte der Ehrwürdigen Frauen Enwors nichts als eine einzige, große Lüge war.