Er machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in der er hinter den zerfallenen Mauern des Turmes das Tal vermutete. »Was dort passiert ist, ändert nichts. Ich will noch immer in den Norden.«
»So?« sagte Titch böse. »Wozu? Noch ein paar Götter erschlagen?«
»Nein. Nur Betrüger, die sich dafür ausgeben.«
Zu seinem Erstaunen reagierte Titch ganz anders auf seine Worte, als er erwartet hatte. Statt zornig zu werden, lächelte der Quorrl plötzlich. »Du täuschst dich, Satai. Sie sind keine Betrüger. Er war ein Gott.«
»Ein sonderbarer Gott, der verblutet, wenn man ihn durchbohrt«, mischte sich Kiina ein. Skar warf ihr einen gleichermaßen erschrockenen wie warnenden Blick zu, aber Titch reagierte auch diesmal nicht zornig, sondern nur mit einem milden, fast mitleidigen Lächeln.
»Sie sind Wesen aus Fleisch und Blut, das ist richtig, Menschenkind«, sagte er. »Und? Glaubst du, er wäre deshalb weniger Gott?«
»Götter sterben nicht«, beharrte Kiina.
»Eure Götter vielleicht«, erwiderte Titch. »Weil sie niemals gelebt haben. Weil es sie nicht gibt.«
»Dann geh doch zu ihnen, du... du Fischgesicht!« fauchte Kiina. Zornig stand sie auf, fuhr herum und stürmte aus dem Raum. Ihr plötzlicher Wutausbruch überraschte Skar nicht einmal. Sie waren alle zu erschöpft und müde, um noch die Kraft für andere als extreme Gefühle zu haben.
Titch sah dem Mädchen kopfschüttelnd nach, aber er lächelte noch immer, als er sich wieder zu Skar herumdrehte. »Manchmal beneide ich sie«, flüsterte er.
»Kiina?«
»Die Menschen. Euch. Eure Welt ist so... so einfach. So klar.«
»Ich kenne eine Menge Männer und Frauen, die anderer Meinung sind«, wandte Skar vorsichtig ein. Aber er verstand, was der Quorrl meinte, und Titch schien das ebenfalls zu spüren und sparte sich die Mühe, seine Worte zu erklären.
Skar drehte den Kopf und sah zum Eingang. Der Vorhang bewegte sich, aber es war nur ein Windzug. Wie er Kiina kannte, würde sie mindestens zehn Minuten lang durch die Ruine toben und Steine und Mauerwerk mit Fußtritten traktieren, ehe ihr Stolz es ihr gestattete, wieder zurückzukommen. Mehr Zeit, als er brauchte.
Trotzdem senkte er die Stimme fast zu einem Flüstern, als er weitersprach. »Es gibt noch einen Grund, aus dem ich in euer Land muß, Titch.«
Der Quorrl starrte ihn an, schwieg.
»Kiina«, sagte Skar. »Ian und seine ... Maschinen haben sich um sie gekümmert, aber sie ist noch immer krank.«
»So wie du.«
Skar tat so, als hätte er den Einwurf gar nicht gehört. »Das Gift«, fuhr er fort, »das sie in Elay eingeatmet hat, ist noch immer in ihrem Körper.« Und in seinem. Sein linker Arm tat jetzt weh; er mußte sich beherrschen, um die Hand still zu halten, damit Titch nichts davon merkte. »Sie wird sterben, vielleicht nicht mehr innerhalb weniger Tage, aber in ein paar Monaten.«
»Ich weiß«, antwortete Titch ungerührt. »Hast du schon vergessen, wer dir die Legende vom Sternenfeuer erzählt hat, Satai?«
»Und das Wasser des Lebens«, fügte Skar hinzu. »Verdammt, Titch, ich bitte nicht für mich. Ich bin ein alter Mann. Es spielt keine Rolle, ob ich heute sterbe oder in fünf Jahren. Aber Kiina ist jung.«
»Du bittest nicht für dich«, wiederholte Titch seine Worte. »Wie edel. Was bringt euch Menschen eigentlich dazu, zu glauben, eine Bitte wäre weniger als eine Bitte, wenn ihr sie für andere stellt?« Er schnitt Skar mit einer fast zornigen Bewegung das Wort ab, als er antworten wollte. »Was bringt dich dazu, Satai, zu glauben, ich würde dein Leben opfern, um ihres zu retten?«
»Nichts«, gestand Skar. »Du hast recht. Entschuldige. Es war dumm. Wirst du uns helfen?«
»Vielleicht«, knurrte Titch. »Wenn ich es kann. Wenn es dich nicht umbringt. Wenn wir jemals so weit kommen. Der Weg zum Sturz von Ninga ist weit. Sehr weit, vor allem für einen Menschen.« Er drehte sich mit einer abrupten Bewegung zur Seite und machte auf diese Weise deutlich, daß er nicht weitersprechen wollte; schon gar nicht über dieses Thema.
»Wir sollten schlafen«, sagte Skar. »Vielleicht können wir alle morgen früh ein wenig klarer denken.« Er stand auf, reckte sich ausgiebig über dem Feuer und massierte dabei seinen schmerzenden Arm, ohne daß der Quorrl es bemerkte. Es wird dich töten, wenn du, versuchst, es zu entfernen. Aber es wird dich auch töten, wenn du es nicht tust. Er hatte Anschi nicht gefragt, wieviel Zeit ihm blieb, aber er hatte plötzlich das Gefühl, daß es weniger sein mochte, als er bisher angenommen hatte. Sehr viel weniger. »Ich gehe und hole Kiina zurück, ehe sie sich eine Lungenentzündung einhandelt«, sagte er in bewußt lockerem Ton. »Wir reden morgen früh weiter.«
Titch antwortete nicht, sondern rollte sich da, wo er lag, zu einem schuppigen Ball zusammen und schloß demonstrativ die Augen. Skar hatte es plötzlich sehr eilig, den Raum zu verlassen. Er fand Kiina auf der alten Wehrmauer, mit fröstelnd um den Oberkörper geschlungenen Armen gegen die Brüstung gelehnt und den Blick starr nach Süden gerichtet, in den schwarzen Schlund, in den die Nacht das Tal der Drachen verwandelt hatte. Er gab sich keine Mühe, leise zu sein, und Kiina mußte ihn hören, aber sie drehte sich weder zu ihm um, noch reagierte sie, als er sich neben ihr gegen das zerborstene Gemäuer lehnte. Im ersten Moment glaubte er, weit im Süden einen hellen Funken zu sehen, aber der Feuerschein war nicht wirklich; sie waren viel zu weit vom Turm entfernt, um die Flammen erkennen zu können.
Was er jedoch spürte, war etwas anderes: Das unheimliche Flüstern und Drängen in seinen Gedanken war erloschen. Der Turm hatte aufgehört, die Seelen der Menschen zu vergiften. Und nicht nur hier.
»Sie werden uns verfolgen«, sagte Kiina plötzlich.
»Ich weiß.« Skar lächelte aufmunternd, obwohl sie es nicht sah. »Hast du Angst?«
»Nein.«
»Ich schon«, sagte er. »Aber wir werden ihnen entkommen, keine Sorge.« Er dachte an die riesigen Echsen, auf denen Ian und seine Brüder geritten waren, als sie ihnen das erste Mal begegneten, aber der Gedanke beunruhigte ihn nur einen Augenblick. Hier in den Bergen waren sie vor diesen Titanen sicher. »Titch hat mir alles erzählt«, sagte Kiina plötzlich. Skar sah sie an und bemerkte, daß sie nicht mehr ins Tal hinabstarrte, sondern den Blick in den Himmel gehoben hatte.
»Ob sie noch da sind?«
»Sie?«
»Die Sternengeborenen«, sagte Kiina. »Unsere Vorfahren. Sie sind von dort gekommen, nicht? Von dort oben.«
»Ja«, antwortete Skar.
»Aber es sind nur Lichtpunkte.« Sie hob den Arm, spreizte die Finger und bewegte die Hand, als versuche sie nach den Myriaden von Sternen zu greifen, die über ihnen am Himmel funkelten. »Sie müssen unendlich weit entfernt sein, wenn wirklich jede eine Welt ist, so groß wie Enwor. Ich frage mich manchmal, ob sie noch da sind.«
»Kaum«, murmelte Skar. »Es ist...« Er machte eine hilflose Bewegung. »Es ist zu lange her. Selbst für sie.«
»Woher willst du das wissen?« Die Schärfe in Kiinas Stimme überraschte ihn. »Was ist eine Million Jahre für sie? Vielleicht haben sie so lange gebraucht, um hierher zu kommen. Es gibt sie bestimmt noch, irgendwo dort oben.«
»Selbst wenn - sie werden nicht wiederkommen«, antwortete Skar sanft. »Götter kommen selten dann, wenn man sie ruft, weißt du?« Und vielleicht sollten wir beten, daß sie es auch diesmal nicht tun, fügte er in Gedanken hinzu.