»Das spielt keine Rolle«, widersprach Kiina. »Ich weiß, daß sie noch da sind.«
Skar widersprach ihr nicht mehr. Warum sollte er ihr nicht das gleiche Recht zubilligen wie Titch? Er hoffte nur, daß sie nicht eines Tages die gleiche Enttäuschung erleben und feststellen würde, daß ihre Götter keine Götter, sondern das Gegenteil waren.
Für gut zehn Minuten schwiegen sie beide, dann fragte Kiina plötzlich: »Habt ihr euch entschieden?«
»Was meinst du?«
»Das weißt du ganz genau«, antwortete Kiina, in einem Ton, der ihn verwirrt aufblicken ließ. Sie starrte weiter ins Leere, aber auf ihrem Gesicht kämpften jetzt Wut und Hilflosigkeit miteinander. »Der Quorrl und du! Was habt ihr jetzt vor? Mich auf eine Daktyle zu binden und zu Del zu schicken, jetzt, wo alles vorbei ist? Oder willst du mich immer noch bei irgendeiner freundlichen Familie in Pflege geben wie eine Katze?«
Skar war so überrascht, daß er im ersten Moment nicht einmal antworten konnte. Plötzlich begriff er Kiinas sonderbare Gereiztheit. Er hatte vorgehabt, sie zurückzulassen, in Elay, und später, als sie die Stadt zerstört vorfanden, irgendwo, vielleicht bei den Errish. Von alledem, was passiert war, hatte Kiina ja kaum etwas gemerkt. Die vergangene Woche existierte für sie praktisch nicht, denn sie hatte sie schlafend verbracht.
»Keineswegs«, antwortete er.
»So?« Kiinas Augen funkelten zornig. »Was plant Ihr dann mit mir, großer Satai?« fragte sie spitz.
»Zuerst einmal, dir Respekt beizubringen«, antwortete Skar spöttisch. »Und danach wirst du mich begleiten.« Er deutete nach Norden.
Kiina schwieg erstaunt. Sie glaubte ihm nicht völlig, das sah er ihr an. Aber er hatte sie auch noch nie belogen.
»Du meinst, ich... ich komme mit?«
»Ins Land der Quorrl«, bestätigte Skar. »Und mit sehr viel Glück auch wieder zurück. Falls wir es überleben, heißt das.« Er seufzte tief und bemühte sich, ein möglichst resigniertes Gesicht zu machen.
»Nicht, daß mir die Vorstellung gefällt«, fuhr er fort, als Kiina nicht antwortete, sondern ihn nur weiter fassungslos anstarrte. »Aber wir brauchen dich.«
»Wozu?« fragte Kiina mißtrauisch.
»Es ist ein weiter Weg bis ins Land der Quorrl«, antwortete Skar. Er brachte es nicht fertig, Kiina die Wahrheit zu sagen, und diese Lüge war so gut wie jede andere. »Es sind mehr als zweitausend Meilen, allein bis zu seinen Grenzen. Und die Götter und ein paar Quorrl allein wissen, wo dieser Sturz von Ninga ist, und was er ist.«
Kiina sah ihn verständnislos an, und Skar fiel erst jetzt wieder ein, daß sie nicht mehr dabeigewesen war, als Titch diesen Namen erwähnte. »Der Ort, an dem das heilige Wasser der Quorrl ist«, fügte er erklärend hinzu. Er kam der Wahrheit damit viel näher, als ihm recht war, aber Kiina erriet nicht, worauf er wirklich hinauswollte.
»Wir werden fliegen müssen«, fuhr er hastig fort, ehe sie Gelegenheit fand, etwa über seine Worte nachzudenken. »Und leider sind weder Titch noch ich in der Lage, mit diesen Ungeheuern umzugehen. Du kannst es.«
»Das können die Errish auch«, antwortete Kiina mißtrauisch. »Aber sicher«, fügte Skar hinzu. »Das Beste wird überhaupt sein, wir marschieren mit einer ganzen Armee auf das Allerheiligste der Quorrl zu, nicht wahr? Sie werden nicht besonders begeistert darüber sein, aber diese zehn oder zwölf Mädchen hier werden sie schon in die Flucht schlagen.« Er lachte, um den verletzenden Spott seiner Worte nachträglich in einen Scherz zu verwandeln, und streckte die Hand nach Kiina aus.
Sie versuchte nicht, sich seiner Umarmung zu entziehen, sondern lehnte sich im Gegenteil eng an seine Schulter. Sie standen noch lange da, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Skar war entsetzlich müde, aber er bewegte sich nicht, bis Kiina nach einer halben Stunde oder mehr seinen Arm von ihrer Schulter löste und in die Ruine zurückging.
Sie schliefen in der gleichen Haltung ein, in der sie draußen an der Mauer gestanden hatten: eng aneinandergekuschelt und den Arm über den anderen gelegt, und zum ersten Mal seit Monaten, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, seit er erwacht war und sein zweites Leben begonnen hatte, hatte Skar das Gefühl, glücklich zu sein. Vielleicht, dachte er, war es nur diese eine Nacht, die ihnen noch blieb, vielleicht das allerletzte Mal, daß er in den Armen eines Menschen einschlief, der ihn nicht fürchtete, und der nichts von ihm fordern würde, was er nicht freiwillig und gerne zu geben bereit war.
Mit diesen trotz allem sonderbar beruhigenden Gedanken schlief er ein.
Aber nicht einmal diese eine, einzige Nacht wurde ihm geschenkt.
11.
Es war Kiinas Stimme, die ihn weckte. Er hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein; seine Lider waren schwer wie Blei, und das Rütteln, mit dem Kiina ihn aufzuwecken versuchte, schüttelte irgend etwas in seinem Kopf durcheinander, so daß er im ersten Moment Mühe hatte, seine Bewegungen zu koordinieren.
»Dein Arm, Skar.«
Die Worte drangen nicht wirklich an sein Bewußtsein, aber sie rührten an etwas, das tiefer lag, und das ihn alarmierte. »Wach auf, Skar! Dein Arm!«
Er öffnete die Augen und blinzelte verständnislos. Er lag neben dem Feuer, das wieder zu heller Glut angefacht worden war, und Kiina war nicht die einzige, die neben ihm kniete. Über ihre Schulter lugte das Fischgesicht Titchs wie eine grüngraue schuppige Grimasse, und auf der anderen Seite des Feuers standen mindestens drei Errish, die ihn mit einem Erschrecken ansahen, das Skar im ersten Moment nicht verstand. Erst dann fiel ihm wieder ein, was Kiina gerufen hatte: Dein Arm.
Er setzte sich auf, blickte verständnislos an sich herab - und fuhr zusammen.
Es war nicht sein Arm. Kiina hatte das falsche Wort benutzt. Es war seine linke Hand.
Sie war zur Kralle geworden; verkrümmt und hart und gichtig wie die eines uralten Greises, jeder Muskel bis zum Zerreißen gespannt, so daß die Sehnen wie Stricke durch die Haut schimmerten und seine Knöchel zu kleinen weißen, blutleeren Narben geworden zu sein schienen.
Und seine Finger waren von den Kuppen bis hinauf zum ersten Glied schwarz geworden.
Zwei, drei Sekunden lang starrte Skar diese Hand einfach an, wie etwas, das gar nicht zu ihm gehörte, und für die gleiche Zeit weigerte er sich einfach zu glauben, was er sah. Es wird dich auch töten, wenn du es trägst.
»Großer Gott, was ist das?« flüsterte Kiina.
Skar hob vorsichtig die rechte Hand, berührte die Kuppen seiner verwelkten Finger und wartete auf einen Schmerz oder irgendein Gefühl. Aber da war nichts. Das quälende Stechen war erloschen und hatte einer fast wohltuenden Taubheit Platz gemacht. Nur direkt unter dem silbernen Band, das er um das Gelenk trug, prickelte die Haut ein wenig.
Eine schmale Hand legte sich auf Kiinas Schulter und schob sie mit sanfter Gewalt beiseite. Skar protestierte nicht, als eine der Errish neben ihm niederkniete, behutsam seine Hand nahm und sie untersuchte. Aber er behielt das Gesicht des Mädchens dabei scharf im Auge, und es hätte ihres bedauernden Kopfschüttelns nicht bedurft, um ihm zu sagen, daß sie ihm nicht helfen konnte.
Trotzdem tat sie, was in ihrer Macht stand, und obwohl Skar ganz genau wußte, wie sinnlos es war, protestierte er nicht dagegen; ganz einfach, weil er vor Schrecken wie gelähmt war. »Tut das weh?« Die Errish zwickte mit den Fingernägeln seinen Daumen. Skar spürte die Berührung nicht einmal.
Sie zögerte, sah ihm einen Herzschlag lang mit einer Mischung aus Schrecken und Besorgnis in die Augen und griff noch einmal zu, und sehr viel fester. Skar sah, welche Überwindung es sie kostete, das verschrumpelte schwarze Fleisch seiner Finger zu berühren. Hätte seine Hand noch gelebt, hätte ihr Griff Blut zum Vorschein gebracht. Aber er fühlte auch diese Berührung nicht.