Er gab Titch einen Wink mit den Augen, auf Kiina zu achten, und stand mühsam auf. Kiina streckte erschrocken die Hände nach ihm aus und ließ die Arme wieder sinken, als er fast unmerklich den Kopf schüttelte und sich an die jungen Errish wandte. »Habt ihr eine Anführerin?«
Als keines der Mädchen reagierte, deutete er mit der unverletzten Hand auf das, das seine Hand begutachtet hatte. »Du. Wie ist dein Name?«
»Jella, Herr.«
»Jella. Gut. Hör mir zu, Jella. Wenn mir... etwas zustoßen sollte, dann wird Titch das Kommando übernehmen. Ihr werdet ihm gehorchen.«
»Was soll das heißen?« fragte Kiina. Skar ignorierte sie. »Wie viele seid ihr?« fragte er.
»Neun«, antwortete Jella. »Aber ich weiß nicht, ob...«
»Wir brauchen zwei eurer Daktylen«, unterbrach sie Skar. »Eine für Titch, eine zweite für Kiina und mich. Du wirst die kräftigsten Tiere heraussuchen, denn wir haben einen sehr weiten Weg vor uns.«
»Ihr wollt allein weiterreiten?« Der Schrecken in Jellas Stimme war unüberhörbar. Skar verfluchte sich innerlich dafür, nicht schon am Abend mit den Errish gesprochen zu haben. Aber er hatte geglaubt, daß ihnen wenigstens eine winzige Atempause blieb.
»Wir müssen es«, antwortete er. »Es wäre euer Tod, wenn ihr versuchen würdet, uns in Titchs Land zu begleiten. Und ich habe eine andere Aufgabe für dich. Du kennst den Weg nach Ikne?« Das Mädchen nickte nervös.
»Wie lange braucht ihr dorthin?«
»Zwei... vielleicht drei Tage«, antwortete Jella zögernd.
»Nicht mehr.« Sie hatte Angst. Vielleicht hatte sie begriffen, was er mit seinen Worten wirklich sagen wollte, vielleicht hatte sie auch einfach Angst, allein zurückzubleiben. Trotz allem, das begriff Skar plötzlich, waren es der Quorrl und er gewesen, die diesen Kindern wenigstens die Illusion von Sicherheit gegeben hatten.
»Ihr müßt es in zwei Tagen schaffen«, sagte er. »Fliegt nach Ikne. Alle. Versucht nicht, irgend etwas Dummes zu tun oder euch gar in Kämpfe mit den Zauberpriestern einzulassen. Ihr müßt das Heer erreichen, bevor es die Stadt angreift. Fragt nach Del, dem Kriegsherrn der Satai. Erzähle ihm, was geschehen ist, und richte ihm folgendes von mir aus: Die Schlacht darf nicht stattfinden. Er darf die Stadt nicht angreifen, ganz gleich, was geschieht. Sage ihm, Skar hätte dich geschickt, und er solle sich daran erinnern, was in Drasks Burg geschehen ist, als es zum Kampf kam. Hast du das verstanden?«
Jella nickte. »Ja. Ich werde zu Del gehen und ihm Eure Worte ausrichten.«
»Es ist wichtig«, sagte Skar in hastigem, fast beschwörendem Ton. »Viel wichtiger, als du dir vorstellen kannst, Kind.«
»Ich werde es tun«, versicherte Jella noch einmal.
Skar sah seine Hand an. Die kriechende Linie hatte seine Knöchel erreicht und spaltete sie in eine Hälfte bleichen weißen Lebens und eine andere, größer werdende aus schwarzem Tod. Sein Arm hatte aufgehört zu bluten. Der Schmerz war zu einem qualvollen, aber erträglichen Pochen geworden, aber er war noch da. Er wußte, daß er nicht den Mut hatte, ihn noch einmal herauszufordern.
Langsam, mit Bewegungen, von denen er selbst spürte, wie erzwungen und mühsam sie waren, drehte er sich zu Titch um. Der Quorrl stand hinter Kiina, unauffällig, aber so, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie festzuhalten. Kiina schien es nicht einmal zu merken. Sie starrte Skar an, mit weit aufgerissenen dunklen Augen und fassungslos über das, was sie gehört hatte.
»Du ... du glaubst, daß ... daß du stirbst?« stammelte sie. »Nein«, log Skar. »Aber es kann sein, daß ich eine Weile außer Gefecht gesetzt werde.« Er lachte leise und hob den Arm, so daß sich der Feuerschein auf dem silbernen Band brach. »Dieses kleine Biest hier hat scharfe Zähne.«
»Lüg nicht!« schrie Kiina. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht war mehr der von Zorn als von Schmerz. »Du stirbst! Du kannst es nicht entfernen. Es ... es tötet dich, wenn du es versuchst!«
»Unsinn«, sagte Skar barsch. »Ich habe noch nicht vor, zu sterben.« Rüde drehte er sich zu Jella um und deutete auf den schmalen Lederstreifen, der ihr Haar zusammenhielt. »Gib mir dein Haarband«, verlangte er.
Die Errish erbleichte, und Kiina schrie auf, als sie begriff, was er vorhatte. Skar drehte sich nicht zu ihr um, aber er hörte, wie Titch sie packte und festhielt, während Jella die Arme über den Kopf hob und mit zitternden Fingern den Knoten löste, der den dünnen Lederriemen zusammenhielt. Skar nahm ihn entgegen, band ihn fest um seinen linken Arm, zwei Finger breit über den tötenden Silberring, und versuchte ungeschickt, mit der rechten Hand und den Zähnen einen Knoten hinzubinden. Jella sah ihm einen Moment dabei zu, ehe sie mit einem Kopfschütteln seine Hand beiseite schob und den Arm abband; nicht sehr sanft, aber mit einer Geschicklichkeit, die ihre Worte Lügen strafte, nichts von der Heilkunst zu verstehen. Skars Unterarm färbte sich da, wo er noch nicht von der tödlichen Fäulnis befallen war, weiß. Seine Haut begann zu prickeln.
»Warte«, sagte sie, als er zurücktreten wollte. Ohne Kiina zu beachten, die aufgehört hatte zu schreien, sich aber noch immer aus Leibeskräften in Titchs Griff wand, zog sie das Schwert des Quorrl aus der Scheide und legte die Waffe ins Feuer. Skar sah, wie die Klinge schwarz wurde und sich dann binnen weniger Augenblicke rot zu färben begann. Plötzlich hatte er Angst. »Ich habe nichts, was ich dir gegen die Schmerzen geben könnte«, sagte sie. »Höchstens ...« Sie streckte die Hand aus und berührte sanft eine Stelle in seinem Nacken, aber Skar schüttelte den Kopf, als sie ihn fragend ansah. Vielleicht waren es seine letzten Sekunden. Er wollte sie nicht verschenken, gleich, wie qualvoll sie sein mochten.
Er sah noch einmal Titch an, und obwohl er kein Wort sagte, verstand der Quorrl die stumme Bitte in seinem Blick, und beantwortete sie mit einem Nicken. Er würde Kiina mit sich nehmen, so oder so.
Skar trat zurück, zog das Tschekal aus der Scheide und streckte den linken Arm aus, so weit er konnte. Jella bückte sich zum Feuer, umwickelte den Griff von Titchs Schwert mit einem Zipfel ihres Mantels und hob die Waffe aus den Flammen. Die Klinge glühte in mattem Rot.
Kiina schrie auf, als hätte er ihr die Klinge in den Leib gestoßen, als er das Schwert hob.
12.
Alptraumgeplagte Fieberträume wechselten sich mit kurzen Perioden ab, in denen er wach war, aber niemals völlig. Wie er später erfuhr, hatte es doch noch etwas gegeben, was die junge Errish für ihn tun konnte: ein betäubendes Pulver, das Kiina in sein Wasser mengte und ihm die schlimmsten Schmerzen ersparte, es ihm allerdings auch verwehrte, während der nächsten drei Tage wirklich aufzuwachen, so daß er sich an den Weg in den Norden nur verschwommen erinnerte.
Im Grunde war alles, worauf er sich wirklich besann, ein beständiger, pochender Schmerz in seiner gesamten linken Körperhälfte, der mal mehr, mal weniger schlimm war, allerdings niemals völlig erlosch, nicht einmal wenn er schlief, und das Gefühl, zu schweben, was nun allerdings einen höchst realen Grund hatte: Gegen seinen ausdrücklichen Willen hatten Titch und Kiina beschlossen, für zwei, drei Tage in der verfallenen Festung am Rande des Tales zu bleiben, bis er das Schlimmste überstanden hatte. Aber schon am nächsten Morgen meldete die zur Wache abgestellte Errish das Herannahen einer großen Anzahl Berittener, die von einer jener gigantischen Tyrannenechsen begleitet wurden, wie Skar und Titch sie in der Nähe Elays gesehen hatten. Offensichtlich verließ sich Ian nicht ganz so auf die tödliche Wirkung des Silberbandes, wie sie gehofft hatten, so daß sie gezwungen waren, ihre Flucht in aller Hast fortzusetzen. Jella und ihre Mädchen wandten sich nach Westen, wie er befohlen hatte, während Titch und Kiina den fiebernden Skar auf dem Rücken der größten Daktyle festbanden und ihren unterbrochenen Flug in den Norden fortsetzten.