»Du bist...« Kiinas Stimme brach. Plötzlich und vollkommen unvermittelt begann sie zu weinen. »O Skar, es tut mir so leid«, schluchzte sie.
Sein erster Impuls war, die Hand auszustrecken und sie an sich zu ziehen, um sie zu trösten. Aber er gab ihm nicht nach, sondern sah Kiina nur reglos und fast abfällig an. »Deine Tränen ändern auch nichts«, sagte er ruhig. »Ich habe eine Hand verloren - und? Ich habe noch eine. Hier, siehst du?« Er spreizte die Finger der Rechten vor ihrem Gesicht, ballte sie zur Faust und machte eine ärgerliche Bewegung damit, als sie antworten wollte. »Reiß dich zusammen. Ich habe schon Schlimmeres überlebt, und ich werde auch das überleben, glaub mir.«
»Aber du -«
»- bist ein Krüppel?« fiel ihr Skar ins Wort. »War es das, was du dich nicht zu sagen traust? Sprich es ruhig aus. Es ist die Wahrheit. Und? Ich lebe. Wäre ich dir als unversehrter Leichnam lieber gewesen?« Aus dem Schmerz in Kiinas Blick wurde Verwirrung und fast sofort Zorn. Ihre Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren. »Natürlich nicht«, antwortete sie scharf. »Ich ... ich dachte nur, es geht dir ein wenig näher.«
»Ich werde eine Menge Arbeit sparen«, sagte Skar achselzuckend. »Beim Händewaschen und Nägelschneiden zum Beispiel.« Ein rauhes Lachen hinter Skars Rücken hielt Kiina davon ab, zu antworten. Er drehte sich um und erkannte Titch, der so lautlos näher gekommen war, daß nicht einmal Skar ihn gehört hatte. Kiina stand mit einer wütenden Bewegung auf, drehte sich um und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten.
Der Quorrl kam näher, blickte ihr stirnrunzelnd nach und sah dann mit schräggehaltenem Kopf auf Skar herab. »Was hast du mit ihr gemacht?«
»Nichts«, antwortete Skar ausweichend. »Es ist mir nur lieber, wenn sie zornig auf mich ist, statt um mich zu weinen.«
Titch seufzte. »Du scheinst dich ernsthaft auf dem Weg der Besserung zu befinden«, sagte er. »Zumindest deine Holzhammerpsychologie ist wieder ganz die alte.«
»Manchmal funktioniert sie«, erklärte Skar ungerührt. »Außer bei dir. Im Seelenleben von Fischen kenne ich mich nicht so gut aus.«
»Kröten, wenn schon.« Titch ließ sich neben ihm in die Hocke sinken, griff mit spitzen Fingern nach Skars Decke und hob sie an. Das spöttische Funkeln in seinen Augen erlosch, als sich sein Blick auf Skars linken Arm richtete. »Großen, Satai fressenden Kröten. Hast du Schmerzen?«
»Etwas«, gestand Skar. »Ich habe schon Schlimmeres ertragen.« Er sah immer noch nicht unter die Decke. Er wollte es, aber er konnte es nicht.
»Ich weiß«, sagte Titch in leicht unwilligem Ton. »Ich habe euch zugehört.«
»Die ganze Zeit?«
Titch nickte. »Sicher. Hast du gedacht, ich lasse sie allein hier im Wald herumspazieren?«
»Was ist so gefährlich daran?«
Titch ließ die Decke sinken. »Nichts«, sagte er gelassen. »Was wäre gefährlich für einen Quorrl, in einem eurer Wälder herumzulaufen?«
»Dann haben wir es geschafft? Wir sind in Cant?«
»Geschafft?« Titch machte eine Kopfbewegung, die sowohl ein Nicken als auch das Gegenteil sein konnte. Vielleicht beides. »Wir haben die Grenze überschritten, aber das ist auch alles. Du bist ungeduldig, Satai. Jeder andere an deiner Stelle wäre froh, noch am Leben zu sein.«
»Jeder andere an meiner Stelle«, antwortete Skar ernsthaft, »hätte dir längst den Schädel eingeschlagen, um sich deine gutgemeinten Bemerkungen nicht mehr länger anhören zu müssen.« Er rechnete mit einer gleichartigen Antwort, aber Titch schien genug davon zu haben, weiter herumzualbern. »Glaubst du, du kannst reiten?« fragte er mit einer Kopfbewegung auf Skars Arm. »Damit?«
»Sicher. Wo sind die Daktylen?«
»Fort. Wir haben sie weggeschickt, schon gestern abend. Es wäre zu gefährlich gewesen, sie zu behalten. Ich bin ohnehin nicht ganz sicher, daß man uns nicht gesehen hat. Das ist auch der Grund, aus dem wir nicht lange hier bleiben sollten. Ich hätte dich geweckt, wenn du nicht von selbst aufgewacht wärst.«
»Wo sind wir?« fragte Skar noch einmal.
»Gut hundert Meilen jenseits der Grenze«, antwortete Titch. »Es gibt ein Dorf in der Nähe, aber das Gebiet ist trotzdem dünn besiedelt. Ich habe Freunde dort, die uns verstecken werden, bis du wieder kräftig genug für den Rest des Weges bist.«
»Das bin ich«, widersprach Skar.
Titch lächelte nur. »Nein, das bist du nicht«, antwortete er. »Du fühlst dich vielleicht kräftig, aber das bist du ganz und gar nicht. Jedes Kind könnte dich zu Boden werfen. Und der Rest der Strecke ist ungleich beschwerlicher als der Ritt auf einer Daktyle.«
»Wie weit ist es noch?«
»Das Problem ist nicht die Entfernung«, antwortete Titch, ohne wirklich zu antworten. »Der Sturz von Ninga ist ein heiliger Ort. Kein Mensch hat ihn je gesehen, geschweige denn betreten. Sie würden uns beide in Stücke reißen, wenn wir auch nur versuchten, uns ihm offen zu nähern.«
»Aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit, und -«
Titch erstickte Skars Protest mit einer rüden Handbewegung. »Mehr Zeit, als wir brauchen«, behauptete er.
»Was soll das heißen?« fragte Skar. »Hast du Nachricht von Del?«
»Nein. Aber es ist drei Tage her, daß die Errish aufgebrochen sind, um ihm deine Warnung zu überbringen. Die Entscheidung ist längst gefallen, so oder so. Es gibt nichts mehr, was du noch daran ändern könntest.«
Skar wollte auffahren, sah den Quorrl aber dann nur einen Moment lang mit einer Mischung aus Ärger und Neugier an und senkte schließlich den Blick. Wie so oft hatte Titch recht, auch wenn seine Argumentation simpel und zumindest in Skars Ohren fast fatalistisch klang. Aber es war so: Das Schicksal Enwors entschied sich nicht hier, sondern auf der anderen Seite des Kontinents, und es gab nichts mehr, was er noch daran ändern konnte. Das einzige, was sich hier und jetzt entscheiden würde, war sein und Kiinas Schicksal.
Er bewegte sich unruhig, wartete darauf, daß Titch etwas sagte und schob schließlich behutsam die Decke beiseite, als der Quorrl beharrlich schwieg. Sein Herz begann zu klopfen, als er den Blick auf seinen linken Arm senkte.
Es sah weniger schlimm aus, als er erwartet hatte. Wo seine linke Hand sein sollte, befand sich ein zwar ungeschickt angelegter, aber sehr sauberer Verband. Es tat nicht einmal mehr sehr weh, und - es war verrückt, aber: er hatte nicht einmal das Gefühl, daß ihm etwas fehlte. Seine Finger waren nicht mehr da, aber er spürte sie, glaubte sogar ihre Bewegung zu fühlen, als er seinen Nerven den Befehl gab, sie zu krümmen.
»Du weißt, daß du trotzdem nur eine Gnadenfrist hast«, sagte Titch leise.
»Wie lange?«
Der Quorrl zuckte mit den Schultern. »Eine Woche. Einen Monat. Ein Jahr... wer weiß?« Er räusperte sich gekünstelt, stand mit einem Ruck auf und streckte ihm die Hand entgegen. Skar griff danach, erhob sich weit weniger elegant und flüssig und zog fröstelnd die Decke enger um die Schultern, als er den eisigen Biß der Nachtkälte spürte. Die Temperaturen konnten kaum über dem Gefrierpunkt liegen. Es hätte ihn nicht erstaunt, wenn er noch Schnee auf den Baumwipfeln gesehen hätte. »Ist es hier immer so kalt?« fragte er, während er sich nach seinem Mantel bückte und hineinschlüpfte.
»Nein«, antwortete Titch. »Die Winter sind länger als bei euch, aber es wird jetzt bald Frühling. Sei froh, daß es noch so ist. In der Dunkelheit haben wir eine bessere Chance, das Dorf ungesehen zu erreichen.«
Es war das zweite Mal, daß Titch eine Bemerkung machte, die sich Skar nicht erklären konnte, und diesmal überging er sie nicht. »Worauf willst du hinaus?« fragte er. »Werden wir verfolgt?«
»Nicht direkt«, antwortete Titch. »Es gibt Patrouillen. Sehr viel mehr als früher. Vorhin, als ich beim Dorf war, habe ich Krieger gesehen, die die Straße bewachen. Ich weiß nicht, warum. Aber es ist besser, vorsichtig zu sein. Je mehr Augen uns sehen, desto mehr neugierige Fragen werden gestellt.«