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Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Skar spürte es. Titch war kein guter Lügner, vielleicht, weil er trotz allem noch nicht weit genug Mensch geworden war, um Übung darin zu haben. Aber er spürte auch, daß der Quorrl nicht weiter über das Thema reden wollte, und beließ es dabei.

Er schloß seinen Mantel, so geschickt oder ungeschickt er es mit einer Hand konnte, und warf sich nach kurzem Zögern auch noch die Decke als zusätzlichen Schutz vor der Kälte über die Schultern. Als er fertig war, kehrte Kiina zurück, wie auf ein Stichwort. Wahrscheinlich hatte sie schmollend in den Büschen gestanden und ihn und Titch beobachtet. Skar fragte sich einen Moment, ob sie ihre Unterhaltung belauscht hatte. Aber er glaubte es nicht. Sie hatten sehr leise gesprochen.

Kiina wich seinem Blick aus. Als sie aufbrachen, hielt sie sich mehr in Titchs Nähe als in seiner, aber das war etwas, was Skar eher begrüßte. Er hoffte, daß das Mädchen und Titch sich in den letzten drei Tagen ein wenig näher gekommen waren, nicht nur, weil dies alles viel leichter machen würde. Es war nie gut, Freunde zu haben, die untereinander verfeindet waren. Und bei Titch und Kiina hatte es ihn immer besonders geschmerzt. Vielleicht, weil sie ihm beide so nahe standen.

Er merkte schon nach ein paar Schritten, wie recht Titch mit seiner Prophezeiung gehabt hatte, was seine Verfassung anging. Nach seinem Erwachen hatte er sich ausgeruht und erstaunlich frisch gefühlt, aber das war nur eine Illusion gewesen, die kaum so lange hielt, bis er sich hinter Titch durch das Dornengestrüpp gezwängt hatte, das ihr Lager umgab. Das Gehen fiel ihm schwer; während der vergangenen Tage mußten ihm seine Muskeln abhanden gekommen sein. Seine Knie zitterten, und jeder Schritt schien ihn ein ganz kleines bißchen mehr anzustrengen als der vorhergehende. Nach den ersten hundert Schritten hoffte er nichts sehnlicher, als daß das Dorf, von dem Titch gesprochen hatte, wirklich so nahe lag, wie der Quorrl behauptete, und nach den zweiten hundert Schritten begann er zu bezweifeln, daß er es bis dorthin schaffen würde; ganz gleich, wie nahe es war. Zumindest in diesem Punkt täuschte er sich nicht. Der Weg zum Dorf der Quorrl hinunter betrug weniger als drei Meilen, aber die letzten beiden trug ihn Titch wie ein Kind auf den Armen.

13.

Der Weg wurde tatsächlich bewacht. Was Titch in einem Anflug von Größenwahn als Straße bezeichnet hatte, war zwar in Wahrheit nichts als ein schlammiger Pfad, der sich in vollkommen willkürlichen Kehren und Windungen den Hang hinaufschlängelte, an dessen Fuß die winzige Ortschaft stand, aber sie konnten selbst im blassen Licht der Morgendämmerung die Anzahl massiger Gestalten erkennen, die beiderseits des Tores lagerte. Sie hatten etwa zweihundert Schritte vor der Palisadenwand Halt gemacht, die das Dorf umgab. Der Wald hörte hier wie abgeschnitten auf, und nicht nur hier: das Dorf der Quorrl erhob sich im Zentrum einer nahezu kreisrunden Lichtung, die zu kahl und zu rund war, um natürlichen Ursprungs zu sein. Und so klein es war - Skar schätzte seine Einwohnerzahl auf weniger als hundert - es war eine Festung. Die Palisadenwand war gut doppelt mannshoch und wurde von vier klobigen, mit spitzen Dächern gedeckten Wachtürmen überragt, und selbst die Häuser, die er von seinem erhöhten Standort aus erkennen konnte, erinnerten an lauter kleine Burgen: gedrungene Würfel aus wuchtigen Balken mit winzigen Fenstern und schweren Türen, die selbst dem Ansturm eines wütenden Quorrl standhalten mußten. »Gibt es ein zweites Tor?« fragte er im Flüsterton.

Titch schüttelte den Kopf. Der Quorrl war neben ihm und Kiina stehengeblieben, wie sie von den letzten Bäumen des Waldes und der Dämmerung getarnt. Aber beides würde sie nicht mehr schützen, wenn sie versuchten, sich dem Dorf zu nähern. Skar fragte sich vergeblich, wie sie die gut dreihundert Schritte vollkommen deckungslosen Geländes überwinden sollten. »Nein«, antwortete Titch mit einiger Verspätung. »Aber auf der anderen Seite der Palisadenwand liegt ein Findling. Als Kinder haben wir ihn benutzt, wenn wir uns aus der Stadt schleichen wollten.«

»Als Kind?«

»Ich wurde hier geboren«, sagte Titch. Er machte eine unwillige Geste, als Skar etwas sagen wollte. »Still jetzt. Ich überlege, wie ich sie ablenken kann.«

»Vielleicht, wenn wir hierbleiben, bis es wieder dunkel ist?« schlug Kiina unsicher vor.

Titch blickte erst sie, dann Skar auf eine sehr bezeichnende Art an und schüttelte den Kopf. »Nein. Es wird gerade erst Tag. Zehn oder elf Stunden ohne Essen und Feuer haltet ihr beide nicht aus.«

Kiina wollte protestieren, aber Skar brachte sie mit einem zornigen Blick zum Verstummen. Im Gegensatz zu Kiina kannte er seine Grenzen. Und die waren eindeutig erreicht.

»Was sind das für Krieger?« fragte er.

Titch zuckte abermals die Schultern. .»Das weiß ich nicht. Noch nicht. Frag mich in einer Stunde noch einmal. Vielleicht kann ich es dir dann sagen.«

»Was hast du vor?«

Titch deutete auf die flachen schwarzen Silhouetten der Quorrl vor dem Tor, dann auf die Stadt. »Ich lenke sie ab. Ihr zwei schleicht euch auf die andere Seite und versucht über die Wand zu steigen; dort, wo der Felsen ist, den ich euch beschrieben habe. Direkt auf der anderen Seite findet ihr einen Vorratsschuppen. An seiner Rückseite sind ein paar lose Bretter. Kriecht hindurch und wartet auf mich.«

Kiina nickte nur, aber Skar war mit Titchs knappen Anweisungen ganz und gar nicht zufrieden. »Wie lange ist es her, daß du dort gespielt hast?« fragte er.

»Lange«, antwortete Titch. »Zwanzig Jahre. Aber keine Sorge. Das Versteck ist noch da. Kinder ändern sich nicht.«

»Aber die Erwachsenen könnten es entdeckt haben«, wandte Kiina ein.

Titch lächelte schwach. »Das brauchen sie nicht. Sie kannten es auch damals schon. Und jetzt geht. Ich warte eine halbe Stunde hier. Zeit genug für euch.« Er machte eine auffordernde Handbewegung und sah Skar prüfend an. »Wirst du es schaffen?«

»Habe ich eine Wahl?« antwortete Skar.

»Nein«, sagte Titch. »Viel Glück.«

Kiina wollte etwas sagen, aber Skar ergriff sie einfach bei der Hand und zog sie ein Stück in den Wald hinein. Kiina machte eine ärgerliche Bewegung und entriß ihm ihre Hand. Er versuchte nicht, sie festzuhalten, aber er spürte, daß er auch nicht die Kraft dazu gehabt hätte.

»Was soll das?« fauchte Kiina. »Hör endlich auf, mich wie ein Kind zu behandeln!«

»Dann hör auf, dich so zu benehmen«, gab Skar ungerührt zurück. Kiina funkelte ihn zornig an, aber er drehte sich einfach um und ging weiter, noch ehe sie Gelegenheit fand, zu widersprechen. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte sie zu Titch zurückgehen oder einfach stehenbleiben, dann murmelte sie etwas, was Skar nicht verstand, ballte die Fäuste und stürmte mit zornig gesenktem Kopf hinter ihm her.

Sie hielten sich dicht am Waldrand; gerade weit genug von ihm entfernt, um vom Dorf aus nicht gesehen zu werden, sollte jemand zufällig in ihre Richtung blicken. Die halbe Stunde, von der Titch gesprochen hatte, erwies sich als gerade ausreichend, denn der Weg war vielleicht nicht übermäßig weit, aber beschwerlich. Die Bäume standen auf dieser Seite viel dichter als auf der anderen, und auch das Unterholz war dichter. Skar blieb mehr als einmal in drahtigem Gestrüpp stecken, dessen nadelspitze Dornen selbst durch seine dicken Hosen stachen, und ein paarmal mußten sie umkehren und große Umwege in Kauf nehmen, um überhaupt weiter zu kommen. Skar schätzte, daß ihre Frist nahezu abgelaufen war, als sie die Stadt zur Hälfte umrundet hatten und der Felsen unter ihnen lag, von dem Titch gesprochen hatte; nicht mehr als ein verwaschener heller Fleck in der Dämmerung, aber er war da.