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Kiina wollte sofort weitergehen, aber Skar hielt sie mit einem Kopfschütteln zurück. Dem Impuls, nach ihrer Hand zu greifen und sie festzuhalten, unterdrückte er im letzten Augenblick. »Warte«, flüsterte er. Kiina sah ihn fragend an, und Skar deutete mit einer Kopfbewegung auf den Weg, der vom Stadttor aus den Hang hinaufführte. Er verschmolz mit dem in der Dunkelheit schwarz aussehendem Gras, ehe er den Wald erreichte, aber Kiina begriff, was er meinte. Sie nickte, zog sich wieder ein Stück in den Wald zurück und ließ sich auf die Knie sinken. Ihr Atem ging schnell. Der Weg hatte sie so sehr erschöpft wie ihn. Aber er widerstand auch diesmal der Versuchung, zu ihr zu gehen und ihr ein paar aufmunternde Worte zu sagen.

Statt dessen blickte er sich aufmerksam um; und eigentlich zum ersten Mal, seit sie ihr provisorisches Lager verlassen hatten. Vorhin, als Titch ihn durch den Wald getragen hatte, hatte er nicht viel erkennen können, aber es wurde allmählich hell, und durch die dürren Baumwipfel fiel genug Helligkeit, ihn jetzt mehr als Schemen erkennen zu lassen. Der Wald war sehr dicht, selbst hier, nahe am Rand, und er wirkte irgendwie... falsch? Skar wußte nicht, ob es das richtige Wort war, aber ihm fiel keine passendere Bezeichnung für das sonderbare Gefühl ein, das ihm beim Betrachten des Quorrl-Waldes einfiel. Die Bäume waren ausnahmslos groß und wuchtig, wütend wirkende, knorrige Gewächse, keiner dünner als drei, vier Fuß und keiner kleiner als fünfzig. Sie hatten keine Rinde, sondern einen Schuppenpanzer, der an den der Quorrl erinnerte, und sehr wenige, dicke Äste, die es ihnen unmöglich machten, selbst in der Blütezeit so etwas wie ein geschlossenes Blätterdach zu bilden. Büsche und Unterholz wirkten wie aus Draht geflochten, und selbst das Moos war hart. Aber es war nicht allein die Feindseligkeit der Vegetation, die ihn beunruhigte. Sie waren weit im Norden, in einem Land, in dem acht oder neun Monate Winter herrschte und in dem er keine Vielfalt oder gar Schönheit von Leben erwarten durfte wie in den fruchtbaren Ebenen von Besh - Ikne oder Malab.

Was er spürte, war vielmehr die Armut dieser sonderbaren Welt. Es dauerte eine Weile, bis er es sah, oder vielmehr nicht sah: Es gab die Bäume mit ihrer glitzernden Schuppenhaut, das drahtige Gebüsch und den blauschwarzen Flickenteppich des Mooses, sonst nichts. Nur diese drei Arten von Leben. Kein Pilz, der seinen Hut vorwitzig aus dem Boden reckte, kein Parasitengewächs, das sich in einem Spalt der Baumschuppen festgekrallt hätte, kein Farn, keine Blumen, keine Schimmelgewächse, kein verwelktes Blatt auf dem Boden, keine Spinnweben, die sich zwischen den Büschen spannten. Dieser ganze Wald wirkte auf ihn, als wäre er gemacht worden, nicht gewachsen, und das von jemandem, der entweder nicht besonders talentiert oder in großer Eile gewesen war. Er fragte sich, ob es überall in Cant so aussah wie hier. Wenn ja, so verstand er Titchs Zorn plötzlich sehr viel besser. Welche anderen denkenden Geschöpfe als Quorrl sollte ein Land hervorbringen, das von der Natur so betrogen worden war wie dieses?

Kiina deutete mit der Hand, und Skar schrak abrupt aus seinen Gedanken hoch und blickte konzentriert nach Süden. Es war noch immer nicht richtig hell - die Dämmerung schien hier sehr viel länger zu dauern, als er es gewöhnt war -, aber nach ein paar Augenblicken erkannte er, worauf ihn Kiina hatte aufmerksam machen wollen: vor dem gegenüberliegenden Waldrand rührte sich etwas. Titch. Der Quorrl hatte seinen goldenen Panzer abgelegt, so daß er nicht viel mehr als ein schwarzer Fleck auf schwarzem Untergrund war, nur an seiner Bewegung zu erkennen, und er schien sich nicht sonderlich zu beeilen.

»Warte noch«, flüsterte er, als Kiina sich erhob. Aufmerksam beobachtete er Titch, der allmählich von einem gestaltlosen Etwas zu einem sich bewegenden Schatten mit Armen und Beinen wurde, dann die Stadt. Sie konnten das Tor von hier aus nicht sehen, aber nach ein paar Sekunden erschienen zwei massige Gestalten auf dem Weg, die Titch entgegeneilten.

»Jetzt«, befahl er, »Beeil dich. Warte nicht auf mich.«

Sie huschten los. Der Weg, dreihundert Schritte über vollkommen leeres Gelände, schien kein Ende zu nehmen, obgleich Skar so schnell rannte, daß selbst Kiina Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Er konnte spüren, wie seine Kräfte mit jeder Sekunde nachließen, und er rechnete jeden Augenblick damit, einen Schatten zu sehen, der auf ihn zustürmte, einen Schrei hören, oder einfach das Surren eines Pfeiles, der ihn einen Sekundenbruchteil später treffen würde.

Aber die Götter - oder vielleicht auch nur die Gleichgültigkeit eines willkürlichen Schicksals - meinten es ausnahmsweise einmal gut mit ihnen. Sie überwanden den Sicherheitsstreifen um die Stadt unbehelligt. Die beiden Quorrl hatten Titch noch nicht einmal erreicht, als sich Skar schweratmend in die Deckung des Felsbrockens sinken ließ, der die Palisadenwand durchbrach. Sie hatten es noch nicht geschafft. Der Findling war wirklich so groß, wie Titch behauptet hatte: seine verwitterte Spitze schob sich bis auf eine halbe Armeslänge an die Krone der Palisadenwand heran, und seine Flanken waren, obgleich von einer Million Quorrl-Hände und -Füße glattpoliert, doch rissig genug, ihn selbst mit einer Hand zu ersteigen. Aber sie würden für jeden deutlich sichtbar sein, während sie es taten. Für die Quorrl dort oben bei Titch, auf halber Höhe des Hanges, ganz besonders gut. »Worauf wartest du?« fragte Kiina, die neben ihm auf ein Knie herabgesunken war. Sie atmete so schwer und schnell wie er, wirkte aber trotzdem eher ungeduldig als erschöpft.

»Daß sie verschwinden«, antwortete Skar mit einer Geste auf die Quorrl. Die beiden Krieger hatten Titch mittlerweile erreicht und waren stehengeblieben. Sie schienen mit Titch zu diskutieren, wenn nicht zu streiten. Skar fragte sich besorgt, was der wirkliche Grund für Titchs Nervosität gewesen war. Es war nicht nur der Umstand, daß sie sich in seiner Begleitung befanden, das hatte er deutlich gespürt.

Er gestikulierte Kiina, weiter in Deckung zu gehen, preßte sich so eng gegen die Felsbrocken, wie er nur konnte, und beobachtete, was weiter geschah. Es war heller geworden, aber noch immer nicht hell genug, um Einzelheiten zu erkennen. Nach einer Weile drehten sich die beiden Quorrl um und nahmen Titch in die Mitte. Ob sie ihn dabei festhielten oder einfach nur begleiteten, konnte er nicht erkennen.

Er wartete, bis die Quorrl aus seinem Blickfeld verschwunden waren, zählte in Gedanken langsam bis fünfzig und richtete sich auf. Wieder fühlte er Schwäche wie eine bleierne Last an seinen Gliedern zerren. Als er den Arm hob und mit den Fingern nach einem Halt im Stein tastete, wurde ihm schwindlig. Wahrscheinlich war es einzig das Wissen, daß dieser Fels das letzte Hindernis auf ihrem Weg war, das ihm die Kraft gab, sich überhaupt noch weiter zu schleppen.

Er mußte feststellen, daß das Überklettern eines auch nur mittelschweren Hindernisses mit einer Hand gar nicht so leicht war; um nicht zu sagen, eine Tortur. Zweimal griff er automatisch mit der linken Hand zu und verlor fast den Halt, ehe ihm einfiel, daß sie nicht mehr da war, und als er endlich oben war und versuchte, über die Palisade zu spähen, stieß er mit seinem Armstumpf so heftig gegen einen Balken, daß er um ein Haar vor Schmerz aufgebrüllt hätte. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, als er es zum zweiten Mal versuchte.

Im ersten Moment erkannte er nichts. Der Himmel über ihm begann sich allmählich hell zu färben, aber die Stadt lag da wie ein Schacht aus Dunkelheit, scheinbar bodenlos. Erst nach Sekunden begannen sich die Umrisse seltsam kubischer, wuchtiger Bauwerke aus der Schwärze zu schälen, das streng geometrische Rechteckmuster der wenigen schmalen Gassen und die knorrigen schwarzen Schatten von Dingen, die er nicht zu identifizieren vermochte. Behutsam schob er sich ein Stück weiter vor und sah an der Wand hinab. Sie war nicht besonders hoch - zehn, zwölf Fuß, eine Distanz, die er normalerweise ohne zu darüber nachdenken übersprungen hätte. Aber seine Kraft reichte nicht mehr für einen Sprung. Es würde ein Sturz werden.