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»Willst du hier Wurzeln schlagen?«

Kiina war unbemerkt hinter ihm auf den Felsen geklettert, und für einen Moment verspürte Skar einen absurden Neid auf ihre Jugend und Kraft, als er sah, daß ihr Atem kaum schneller ging. Ärgerlich und mehr vom Trotz als klarer Überlegung getrieben, richtete er sich halb auf, federte kurz in den Knien ein und sprang in die Tiefe.

Die Strafe folgte unverzüglich. Er kam schlecht auf, fiel und versuchte den Sturz in eine Rolle vorwärts zu verwandeln, was ihm aber nur zum Teil gelang. Er stürzte, schrammte sich auf dem rauhen Boden die Haut vom rechten Unterarm und einem Teil der Wange und verbiß sich nur deshalb einen Schmerzlaut, weil Kiina ihm ohne zu zögern folgte; auf die gleiche Weise wie er, nur wesentlich leiser und geschmeidiger. Mit einem Schritt war sie bei ihm, half ihm auf die Füße und sah ihn fragend an. Skar schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß ihm nichts passiert sei, entzog Kiina seine Hand und sah sich seinerseits aufmerksam um. Es war noch dunkler hier, als es vom Felsen aus den Anschein gehabt hatte. Kaum eine Armeslänge vor ihm ragte die Wand eines jener sonderbar würfelförmigen Gebäude in die Höhe, schwarz und konturlos in der Finsternis und scheinbar so gewaltig wie ein Berg. Skar streckte die Hand aus und fühlte rauhen, kaum bearbeiteten Stein. Titch hatte von losen Brettern gesprochen.

»Hier, Skar.«

Kiina war in der Dunkelheit verschwunden, aber es fiel ihm nicht schwer, die Richtung auszumachen, aus der ihre Stimme kam. Vorsichtig bewegte er sich darauf zu, erkannte einen kauernden Schatten und hörte fast im gleichen Moment ein gedämpftes Knarren. In der schwarzen Wand hinter Kiina tat sich ein dreieckiger Spalt in noch tieferem Schwarz auf.

Er hatte kein gutes Gefühl, als er gebückt hinter Kiina in den Schuppen kroch. Sicher, es war alles so, wie Titch vorhergesagt hatte: der Felsen war da, der Schuppen und sogar der geheime Eingang zu dem Kinderversteck, aber es waren zwanzig Jahre vergangen, seit Titch und seine Freunde sie für ihre Spiele benutzt hatten. Die Götter allein mochten wissen, wozu all dies heute diente. Vielleicht kamen sie geradewegs unter dem Bett des quorrlschen Äquivalents eines Bürgermeisters heraus. Oder in seiner Vorratskammer.

Im Moment jedenfalls sah er nichts als eine Schwärze, die so tief war, daß er fast meinte, sie anfassen zu können. Ein unangenehmer, nicht einzuordnender Geruch hing in der Luft und machte ihm das Atmen schwer, und seine tastende Hand stieß fast unmittelbar auf Widerstand: eine zweite, hölzerne Wand, die den winzigen Raum auf weniger als eine Armeslänge einengte. Er hatte niemals unter Platzangst gelitten, aber als Kiina sich nach wenigen Sekunden umständlich in ihrem winzigen Versteck umdrehte und das lose Brett wieder an seinen Platz schob, hatte er plötzlich das Gefühl, überhaupt nicht mehr atmen zu können. Sein Herz jagte. Er spürte Kiinas Nähe, den Stoff ihres Mantels und ihr seidiges Haar, das seine Wange kitzelte, und beides war ihm auf seltsame Art unangenehm. Er mußte sich beherrschen, um nicht trotz der Enge zu versuchen, von ihr fortzurücken. Seine Hand wurde feucht vor Schweiß.

Er hörte Kiina neben sich in der Dunkelheit hantieren, dann klapperte etwas. »Hier ist etwas«, sagte sie. »Ich kann es nicht genau ertasten, aber... ja. Es ist eine Lampe. Hast du Feuersteine?«

»Nein«, antwortete Skar. Seine Stimme klang krächzend. Er versuchte, diesen Eindruck auf die sonderbare Akustik des winzigen Verschlages zu schieben, aber er konnte nicht einmal sich selbst belügen. Er hatte Angst, ganz plötzlich. Er war halb wahnsinnig vor Angst. Und er wußte nicht einmal, warum. Kiina seufzte. »Natürlich nicht«, sagte sie. »Was für eine dumme Frage. Warte.« Wieder tat sie etwas, was er nur hörte und nicht sehen konnte, aber nach Augenblicken glomm ein winziges rotes Flämmchen zwischen ihren Fingern auf, sprang auf den Docht der groben Öllampe über, die sie gefunden hatte, und wuchs zu einem bleichen, flackernden Licht. Skar erkannte, daß der Verschlag wirklich so winzig war, wie er geglaubt hatte. Jetzt, als er seine Wände sehen konnte, kam er ihm sogar noch kleiner vor.

Das Mädchen schob die Lampe so weit von sich fort, wie es ging, und rutschte gleichzeitig näher an Skar heran, schon, damit die Flamme nicht auf ihren Mantel oder ihr Haar übergriff. Sie sah zu ihm auf, und er versuchte sich wenigstens einzureden, daß der im blassen Licht der Lampe nur zu erahnende Ausdruck auf ihrem Gesicht ein Lächeln sein sollte. Er fragte sie nicht, wie sie das Feuer gemacht hatte, aber Kiina sagte es ihm trotzdem. »Ein alter Trick der Errish«, sagte sie. »Du wärst erstaunt, wenn du wüßtest, wie einfach er ist.«

Sie sagte das nicht einfach nur so dahin. Sie hatte genau die gleichen Worte schon einmal gesagt, vor Monaten, die ihm wie Jahre vorkamen, auf der anderen Seite der Welt und in einem anderen Leben, und sie erfüllten ihn mit einer seltsam melancholischen Traurigkeit. Und genau wie damals waren sie sich nahe, so nahe, wie sich zwei Menschen nur sein können.

Zögernd streckte er die Hand nach ihr aus, berührte ihre Schulter, ihr Haar, ließ seine zitternden Fingerspitzen über ihre Wange gleiten, ihre Augen... Ein Gefühl tiefer Zärtlichkeit durchströmte ihn, eine Liebe, die vom ersten Tag an zwischen ihnen gewesen war und die nichts glich, was er jemals erlebt hatte. Es war nichts Körperliches. Er würde sie niemals berühren, und er wußte auch, daß sie es nicht zulassen würde, sollte er es versuchen. Und doch war er bereit, sein Leben für sie zu geben, ohne zu zögern. Früher, unendlich viel früher einmal, war es zwischen Del und ihm ähnlich gewesen. Aber das war lange her. Zu lange, als daß er sich noch wirklich daran erinnerte; in einem Leben, in dem er noch Achtung vor sich selbst gehabt hatte, als er noch wußte, warum er überhaupt lebte, in dem er noch Freunde gehabt hatte. Heute war sein einziger Freund ein fischgesichtiger Quorrl, und der einzige Grund, aus dem er noch lebte der, daß der Moment für seinen Tod noch nicht gekommen war. Er hatte noch immer Angst, aber er begriff plötzlich ihren Grund. Es war nicht die Angst vor irgend etwas, sondern Furcht vor dem Leben selbst, dem nächsten Moment und dem Schrecken, den er bringen mochte.

Kiina schien zu spüren, wie es in ihm aussah, denn sie nahm plötzlich seine Hand und schob sie mit sanfter Gewalt von sich fort, ohne ihn wirklich wegzustoßen, und sah sich mit einem übertrieben gekünstelten Räuspern in dem kleinen Verschlag um. Es gab allerdings nicht furchtbar viel, was sie entdecken konnte: der Raum hatte die Form eines schmalen Rechteckes und war fast vollkommen leer, von der Lampe und einem zerbrochenen Spielzeug abgesehen, das sehr alt sein mußte, denn seine ursprüngliche Form war von Schimmel und Moder zerfressen und fast unkenntlich. Der Boden bestand aus Stein, der viel glatter war als der der Straße draußen, aber auch härter.

»Titchs Freunde müssen verdammt klein gewesen sein, wenn sie in diesem Loch gespielt haben«, sagte sie lächelnd. Sie streckte die Hand aus, tastete behutsam über die innere Wand und zog die Finger fast erschrocken wieder zurück, als sich eines der Bretter bewegte.

Skar hielt sie zurück, als sie erneut ansetzte und auch hier als erste unter dem losen Brett hindurchkriechen wollte. »Warte«, sagte er. »Gib einem alten Mann eine Chance, wenigstens ab und zu den Beschützer zu spielen.«

Kiina seufzte. Eingepfercht, wie sie in dem winzigen Verschlag dasaßen, wäre es sehr viel einfacher gewesen, wenn sie vorausgegangen wäre. Aber sie schien zu ahnen, daß Skars Worte nicht ganz so scherzhaft gemeint waren, wie sie sich anhörten, denn sie protestierte nicht, sondern preßte sich noch enger gegen die Wand, als Skar umständlich über sie hinwegkletterte und die Schultern durch die Öffnung zu zwängen begann.