»Sie sind alle tot, Skar.«
Skar drehte sich erschrocken herum. Er hatte Kiinas Annäherung nicht einmal bemerkt, aber sie war ihm bis auf zwei Schritte nahe gekommen. Das Schwert, das sie in der rechten Hand trug, zitterte. Sie war sehr blaß.
»Sie... sie sind alle tot«, sagte sie noch einmal. »Ich war in einem der Häuser. Sie sind von außen verschlossen, aber sie sind voller... voller toter Quorrl.«
»Tot?«
»Sie haben sie umgebracht«, flüsterte Titch. »Alle. Sie haben... die ganze Stadt ausgelöscht.«
Skar war nicht einmal sehr überrascht. Er hatte gewußt, daß es in dieser Stadt kein Leben mehr gab, schon lange vor Titchs Worten. Aber er fühlte sich betroffen; viel stärker, als er erwartet hatte; sogar stärker als zuvor, bei anderen Gelegenheiten, als er durch Städte und Dörfer gekommen war, deren menschliche Bewohner man umgebracht hatte. Er war verwirrt.
Automatisch griff er zu, als Titch sich endlich zu ihm herumdrehte und ihm das Schwert zurückgab. Er schob die Waffe fast überhastet in ihre Scheide zurück und verzichtete sogar darauf, das Blut abzuwischen, das noch an der Klinge klebte. Titchs Gesicht war voller Zorn und Haß, aber er wich seinem Blick aus. »Warum?« fragte Skar.
»Weil sie...« Titch stockte, blickte ihn für einen kurzen Moment nun doch an und sah dann hastig wieder weg. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. Es war eine Lüge. Skar spürte es, und Titch gab sich nicht einmal sonderliche Mühe, überzeugend zu wirken. Erneut fiel Skar ein, wie unsicher und... ja, und fast ängstlich der Quorrl auf ihn gewirkt hatte, vorhin, ehe sie sich der Stadt näherten.
»Es muß einen Grund geben«, sagte Kiina überzeugt. »Nicht einmal Quorrl löschen ein ganzes Dorf ohne Grund aus.« Skar warf ihr einen warnenden Blick zu, aber Titch reagierte ganz anders, als er erwartet hatte: statt zornig zu werden, drehte er sich nur langsam zu dem Mädchen um, sah sie einen Herzschlag lang mit undeutbarem Ausdruck an und nickte schließlich. »Vor dem Tor sind noch drei«, sagte er. »Vielleicht fragen wir sie.«
»Warum nicht?« Kiina zuckte die Schultern. »Wir -«
»Wir«, fiel ihr Skar ins Wort, etwas lauter und mit eindeutig warnender Betonung, »werden gar nichts tun. Titch und ich gehen. Du bleibst hier.«
»Wer sagt das?« fragte Kiina trotzig.
Skar hatte plötzlich Lust, ihr eine schallende Ohrfeige zu versetzen. »Es ist zu gefährlich«, sagte er mit mühsamer Beherrschung. »Es sind Krieger, Kiina. Diese beiden hier haben wir überrascht.«
»Und?« schnappte Kiina. »Warum sollte uns das bei den anderen nicht auch gelingen?«
Wahrscheinlich hätten sie sich noch weiter gestritten; Kiina war viel zu starrköpfig, um nachzugeben, und Skar zu müde; außerdem machte es ihn wütend, daß sie auch diesmal wieder seinen Befehl mißachtete und auf eigene Faust eines der Häuser durchsucht hatte. Aber Titch beendete die sinnlose Diskussion, ganz einfach, indem er sich zu einem der toten Krieger herabbeugte und dessen Waffe an sich nahm. Ohne ein Worte drehte er sich herum und ging mit schnellen Schritten den Weg zurück den sie gekommen waren, so daß sie ihm folgen mußten, ob sie wollten oder nicht.
Skar zog das Schwert, als sie sich dem Tor näherten. Es gab keine Möglichkeit, sich in irgendeinem toten Winkel zu halten; das Tor war so breit wie die Straße, und auf den letzten zwanzig Schritten gab es keinerlei Abzweigungen. Aber sie hatten Glück. Vor dem Tor rührte sich nichts, doch sie sahen den Widerschein des heruntergebrannten Feuers, an dem sich die Quorrl während der Nacht aufgewärmt haben mußten. Skar fragte sich, warum sie unter freiem Himmel übernachtet hatten, statt in einem der leerstehenden Häuser Schutz zu suchen.
Titch zögerte keine Sekunde, sondern ging im Gegenteil plötzlich schneller. Skar hörte einen überraschten Schrei auf der anderen Seite des Palisadenzaunes, dann riß Titch das erbeutete Schwert in die Höhe und wandte sich mit einem Sprung nach links, und aus dem Schrei wurde das entsetzliche Geräusch reißenden Stahls, der durch Fleisch und Knochen schnitt. Es war vorbei, ehe Skar und Kiina hinter Titch durch das Tor stürmten. Zwei der drei Quorrl lagen tot am Boden, der dritte krümmte sich stöhnend und preßte beide Hände auf eine lange, heftig blutende Schnittwunde in seinem Leib.
Titch versetzte ihm einen Tritt, der ihn halb in die Höhe riß und gegen die Palisadenwand schleuderte. Der Quorrl kreischte vor Schmerz und versuchte gleichzeitig sein Gesicht zu decken und die Hand auf die Wunde in seinen Schuppen zu pressen, aber Titch riß ihn abermals in die Höhe und schlug mit aller Kraft auf ihn ein.
»Titch!« schrie Skar. »Hör auf!«
Titch hörte seine Wort gar nicht, sondern fuhr fort, wie besessen auf den Quorrl einzuschlagen. Skar versuchte ihn zurückzureißen, aber es war, als zerre er an einem Felsen; es gelang ihm nicht nur nicht, Titchs Arm zurückzuhalten, sondern er wurde im Gegenteil mitgerissen, als die Faust des Quorrl abermals mit voller Kraft im Gesicht des verwundeten Kriegers landete. Skar verlor ebenfalls das Gleichgewicht, prallte ungeschickt gegen die Palisade und wäre fast gestürzt.
»Titch - hör auf!« rief Kiina beschwörend. »Wir brauchen ihn noch! Bring ihn noch nicht um!«
Diesmal reagierte der Quorrl. Er riß den Verletzten zwar noch einmal in die Höhe, um ihn mit voller Wucht gegen die Palisadenwand zu werfen, aber seine geballte Faust verharrte plötzlich. Jeder einzelne Muskel in seinem gewaltigen Körper war gespannt; es sah aus, als zerre er mit aller Kraft an unsichtbaren Ketten, die ihn gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen zu ziehen versuchten. Aber dann ließ er die Faust wieder sinken und beschränkte sich darauf, den Quorrl festzuhalten, als er zusammenzubrechen drohte.
Skar warf Kiina einen dankbaren Blick zu - den diese mit einem spöttischen Lächeln quittierte - und wich vorsichtshalber ein paar Schritte vor dem tobenden Quorrl zurück. In Titchs Gesicht mischten sich Mordlust und Verzweiflung zu etwas, das Skar sich plötzlich vor dem Quorrl fürchten ließ. Er spürte, daß Titch ihn töten würde, wenn er versuchte, sich zwischen ihn und seinen Gefangenen zu stellen.
»Töte ihn nicht, Titch«, sagte Kiina noch einmal. Sie sprach schnell, hastig und mit schriller, beschwörender Stimme, aber aus irgendeinem Grund hörte Titch mehr auf sie als auf Skar. »Wir brauchen ihn. Frag ihn, was hier passiert ist. Frag ihn, warum sie das getan haben und wer ihnen den Befehl dazu gegeben hat.«
Titch blickte sie einen Moment lang aus brennenden Augen an, ehe er wieder zu dem Quorrl herumfuhr. Er sagte ein einzelnes, scharf klingendes Wort in einem Quorrl-Dialekt, den Skar nicht verstand. Die Antwort des Kriegers bestand nur aus einem störrischen Kopfschütteln.
Titch schlug ihn, nicht mit der geballten Faust, wohl aber mit aller Kraft, so daß der Kopf des Quorrl wuchtig gegen die Wand flog. Der Krieger stöhnte, aber das trotzige Funkeln in seinen Augen blieb. Titch schlug ihn wieder, und mit noch mehr Kraft. Die Wange des Quorrl platzte auf. Blut lief über seine dunkelgrünen Schuppen.
»Bring ihn nicht um, Titch«, sagte Skar warnend.
Titch funkelte ihn an. »O doch, das werde ich«, antwortete er. »Das werde ich sogar ganz bestimmt. Es liegt nur bei ihm, ob ich es schnell oder langsam tue. Sehr langsam«, fügte er mit einem drohenden Blick auf den wimmernden Gefangenen hinzu. Der Quorrl starrte abwechselnd ihn und Skar an, und Skar war sehr sicher, daß er ihre Sprache verstand.
»Wenn du ihn folterst, bist du nicht besser als sie«, sagte er. »Und?« Titch lachte schrill. »Wer hat gesagt, daß ich das will? Er ist ein Quorrl, ich bin ein Quorrl. Wir sind doch nur Tiere. Aber er wird antworten, keine Sorge. Die Frage ist nur, wie lange es dauert.«
»Titch, du -«
»Warum«, fiel ihm der Quorrl zornig ins Wort, »gehst du nicht zurück in die Stadt und suchst nach einem Quartier für die Nacht?«