»Ist er das? Hat Kämpfen überhaupt jemals einen Sinn gehabt?«
Skar seufzte. »Bitte, Titch, ich... ich habe jetzt nicht den Nerv, eine philosophische Diskussion zu führen.«
»Ich auch nicht«, antwortete Titch ernst. »Der Sinn des Kampfes ist der Kampf, mehr nicht. Es ist der Sinn eines Schwertes, zu schneiden. Der Sinn eines Pfeiles, zu töten. Und der einzige Daseinszweck eines Kriegers, zu kämpfen.«
Der Fehler in diesen Gedanken war so offensichtlich, daß Skar sich fragte, worauf Titch hinauswollte, denn auch der Quorrl mußte ihn erkennen, noch ehe er die Worte ganz ausgesprochen hatte. »Es gibt einen Unterschied«, sagte er. »Ein Schwert kann sich sein Schicksal nicht aussuchen. Es wird gemacht.«
»Wir auch«, antwortete Titch bitter.
Skar wollte widersprechen, aber plötzlich erinnerte er sich an etwas, was Titch vor langer Zeit einmal zu ihm gesagt hatte, ohne daß er die wahre Bedeutung seiner Worte damals begriff: Wir werden als Krieger gezeugt. Natürlich hatte er nicht gewußt, wie diese Worte wirklich gemeint gewesen waren. Er weigerte sich selbst jetzt noch, sie zu glauben.
»Die Männer draußen vor dem Tor«, wandte Kiina ein. »Sie hatten Waffen, Titch.«
»Die Tempelgarde«, knurrte Titch. Skar vermochte nicht zu sagen, ob das Zittern in seiner Stimme Zorn oder Entsetzen war oder beides, aber Titchs Hände versuchten schon wieder, die Tischplatte zu zerbrechen. »Sie sind die einzigen, denen es erlaubt ist, Waffen zu tragen. Aber sie verlassen die Heilige Insel nie.«
»Bis jetzt nicht.«
Kiina warf Skar einen fast beschwörenden Blick zu. Skar hätte gerne mehr über die Kultur der Quorrl erfahren; mehr über dieses Geheimnis, das ihre gesamte Geschichte bestimmen mußte. Aber er spürte auch, daß er schon fast zu viel für den Augenblick gehört hatte. Titch wirkte äußerlich beherrscht, aber das war er nicht. Der riesige Quorrl stand kurz vor dem Zusammenbruch, sowohl seelisch als auch körperlich. Skar wollte bei keinem von beidem dabei sein. Kiina hatte recht, das Gespräch vorsichtig wieder auf ihr ursprüngliches Thema zurückzulenken. Sie konnten nicht so tun, als wäre nichts weiter geschehen, aber sie konnten zumindest über ein etwas weniger schmerzhaftes Thema reden.
»Warum haben sie diese Heilige Insel verlassen?« fragte er, als Titch keine Anstalten machte, auf Kiinas nur halb ausgesprochene Frage zu antworten. »Nur wegen ein paar Deserteuren?« Titch schüttelte müde den Kopf. »Es sind nicht nur ein paar«, sagte er. »Es hat immer einige gegeben, die versucht haben, zurückzukehren. Eine Handvoll. Ein paar Dutzend. Diesmal... der Krieger wußte nichts Genaues, aber es müssen Tausende sein.«
»Tausende?« Kiina riß überrascht die Augen auf.
»Das Heer hat sich von Dels Truppen getrennt«, berichtete Titch. »Der Mann, dem ich meine Nachfolge anvertraute, führte sie in die Berge, zu einem Ort, an dem die Todeszeremonie würdig abgehalten werden konnte. Aber viele sind desertiert, noch ehe sie ihn erreichten. Viele verweigerten den Befehl. Vielleicht hat der Krieger gelogen, aber er behauptet, daß es zu Kämpfen kam. Kämpfen zwischen denen, die sterben wollten, und denen, die sich weigerten.«
Skar entsann sich plötzlich einer ähnlichen Situation; vor wenig mehr als einem Monat, in Drasks Trutzburg. Damals war es Titch gewesen, der seine eigenen Krieger getötet hatte, aus einem viel nichtigeren Grund als dem, einen Schwur gebrochen zu haben. Aber er begriff auch fast im gleichen Moment, wie unfair dieser Vergleich war. Der Titch von damals hatte nichts mit dem Quorrl gemein, der ihm heute gegenübersaß.
»Das ist absurd«, murmelte Kiina.
»Absurd?« Titch schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Es ist... fürchterlich. Du begreifst nicht, was wirklich geschehen ist, Menschenjunges. Quorrl haben gegen Quorrl gekämpft; Brüder gegen Brüder, Väter gegen Söhne. Das ist absurd. Sie hatten recht, die Überlebenden zu jagen und zu töten. Kein Quorrl, der das Blut eines Quorrl vergossen hat, darf dieses Land wieder betreten.«
»Hatten sie auch ein Recht, die Leute hier umzubringen?« fragte Skar leise.
»Nein«, antwortete Titch. »Und das ist auch der Grund, aus dem ich sie umgebracht habe. Obwohl ich viel eher dich hätte töten sollen.«
»So?«
»Es ist eure Erfindung«, sagte Titch. »Wie nennt ihr es doch gleich? Ein Exempel? Ich glaube, das ist das Wort. Dieses Dorf ist nicht das einzige, dessen Bewohner den Heimgekehrten Unterschlupf gewährte. Sie haben es ausgelöscht, um die anderen zu warnen.«
»Und warum gerade dieses?« fragte Kiina.
»Weil es mein Dorf ist«, antwortete Titch leise. »Ich wurde hier geboren. Sie wußten, daß ich hierher zurückkehren würde.« Er lächelte bitter. »Ich bin ein bekannter Mann, Menschenkind. In meinem Volk fast so bekannt wie dein Freund Skar. Welches Beispiel wäre wohl abschreckender als das, ausgerechnet mein Dorf auszulöschen?«
»Und was willst du jetzt tun?« fragte Skar.
Titch starrte ihn an. »Was soll ich tun, deiner Meinung nach?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten - du kannst hierbleiben und dir selbst leid tun, bis sie kommen und dich holen, oder du kannst versuchen, die Schuldigen an diesem Massaker zu finden und zu bestrafen.«
Titchs Antwort bestand aus einem dünnen, unendlich bitteren Lächeln. »Bestrafen«, murmelte er. »Rache! Macht sie die Toten wieder lebendig?«
»Nein«, antwortete Kiina an Skars Stelle. »Aber sie hilft den Lebenden, besser damit fertig zu werden. Auch meine Heimatstadt wurde vernichtet. Ich habe keine Sekunde lang daran gedacht, aufzugeben.«
Skar signalisierte ihr mit Blicken, den Bogen nicht zu überspannen, aber Titch reagierte ganz anders, als er erwartet hatte. Für lange, lange Zeit, fast eine Minute, starrte er Kiina nur ausdruckslos an, aber dann änderte sich etwas in seinem Blick, und plötzlich hob er die Hand und berührte unendlich sanft das Gesicht des Mädchens. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine groben Züge. Er sagte kein Wort, sondern verharrte eine weitere halbe Minute in dieser Haltung, stand dann plötzlich auf und trat ans Fenster, um hinauszublicken. Kiina sah Skar fragend an, aber er antwortete nur mit einem Achselzucken. Er verstand so wenig wie sie, was das sonderbare Verhalten des Quorrl zu bedeuten hatte.
»Warum nicht?« sagte Titch nach einer Weile, ganz leise und eher zu sich selbst als an Skar oder Kiina gewandt. »Wenn schon alles sinnlos geworden ist, warum dann nicht auch noch das?« Er atmete tief und hörbar ein, drehte sich wieder herum, sah erst Kiina, dann Skar nachdenklich an und verwandelte sich jählings wieder von einem gebrochenen Mann in den kraftstrotzenden, Stärke und Zuversicht ausstrahlenden Krieger, als den Skar ihn kennengelernt hatte.
»Kannst du reiten?« fragte er.
»Das hast du mich schon einmal gefragt. Hast du diesmal ein Pferd?«
»Fünf Stück«, antwortete Titch. »Wahrscheinlich sogar mehr. Sie sind nicht zu Fuß gekommen. Und sie brauchten Tiere, um die Gefangenen abzutransportieren. Ich weiß nicht, wo sie sind, aber die Stadt ist nicht sehr groß. Wir werden sie finden.«
15.
Sie verließen die Stadt noch in der gleichen Stunde. Während der nächsten beiden Tage und Nächte ritten sie weiter nach Norden, aber auch zurück in den Osten. Sie hatten nicht nur fünf, sondern ein ganzes Dutzend Pferde gefunden, die sie allesamt mitnahmen, so daß sie die Tiere oft wechseln konnten und nur Pausen einzulegen brauchten, wenn sie erschöpft waren. Skar schätzte, daß sie an die zweihundertfünfzig Meilen zurücklegten, ohne etwas anderes als monotone, scheinbar endlose Wälder und noch eintönigere, noch endlosere Ebenen aus karstartigem Gestein und dürren graugrünen Dornenbüschen zu sehen. Von Titch hatte er erfahren, daß es zahlreiche Gruppen wie die gab, auf die sie am ersten Tag gestoßen waren; kleinere und größere Einheiten schwerbewaffneter Soldaten, die auf der Suche nach heimkehrenden Kriegern die verstreut daliegenden Dörfer und Ortschaften bewachten oder die Wälder durchstreiften, so daß sie große Umwege in Kauf nahmen, um Straßen und Ansiedlungen aus dem Weg zu gehen. Trotzdem wurden sie zweimal fast überrascht: das erste Mal tauchte die Spitze eines Reitertrupps so überraschend vor ihnen auf, daß sie buchstäblich erst im allerletzten Moment in den Wald zurückweichen konnten, das andere Mal sahen sie in der Nacht ein Feuer zu spät; Titch war gezwungen, einen der Posten zu erschlagen und sich für Stunden von ihnen zu trennen, um eine falsche Spur zu legen, denn es war sicher, daß sie verfolgt wurden.