Allerdings nur für wenige Augenblicke. Titch erschien so schnell unter der Tür, daß Skar sicher war, er hatte draußen vor dem Zimmer gewartet. Der Quorrl trug jetzt wieder eine Rüstung - nicht das goldene Schuppenkleid, in dem Skar ihn kannte, sondern einen einfachen Lederharnisch mit dazu passendem Rock. Auf seinem Rücken war ein gewaltiger Schild festgeschnallt, und um seine Hüften wand sich ein Waffengurt, aus dem die Griffe von gleich zwei Schwertern ragten. In einem davon erkannte Skar sein Tschekal. Der dunkelgrüne Umhang, der seine Schultern verhüllte, wurde von einer fast faustgroßen goldenen Spange zusammengehalten, deren Form Skar an etwas erinnerte. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, daß der Quorrl die Kleider eines der Krieger trug, auf die sie bei seinem Dorf gestoßen waren.
»Wie fühlst du dich?« fragte Titch anstelle einer Begrüßung. Skar versuchte sich aufzusetzen, was sich als gar nicht so einfach erwies, mit nur einer Hand und matt wie er war. »Gut«, log er. »Aber wo sind wir? Was ist passiert, und wo ist Kiina?«
»Welche von diesen Fragen soll ich zuerst beantworten?« Titch zog sich einen Schemel heran und ließ sich darauf nieder. »Alle drei.« Skar machte eine weit ausholende Bewegung mit der Hand. »Was ist das hier?«
»Ein Haus. Das Gut von... Freunden«, antwortete Titch. Es gelang ihm nicht ganz, über das kaum merkliche Stocken in seiner Stimme hinwegzutäuschen. »Auf jeden Fall sind wir in Sicherheit. Scrat ist die beste Heilerin, die ich kenne. Vielleicht die beste überhaupt.«
»Das meine ich nicht«, antwortete Skar. Er sah den Quorrl scharf an, aber Titchs Gesicht hatte sich wieder in eine Maske verwandelt, auf der keinerlei Gefühle abzulesen waren. »Es muß ziemlich riskant sein, bei Freunden unterzuschlüpfen, nicht?« Wenn Titch die sonderbare Art auffiel, in der Skar das Wort betonte, so überspielte er es meisterhaft. Er zuckte nur mit den Schultern. »Wir hatten keine Wahl. Du wärst gestorben, wenn niemand dir geholfen hätte. Du erinnerst dich nicht?«
Skar schüttelte den Kopf, aber es war seltsam - Titch schien fast erleichtert darüber zu sein. Skar war jetzt sicher, daß der Quorrl ihm etwas verschwieg.
»Wie fühlst du dich?« fragte Titch noch einmal.
Diesmal dauerte es eine Weile, bis Skar antwortete. »Es geht«, sagte er. »Mein Arm schmerzt, aber es ist zu ertragen. Das Fieber ist fort«, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu.
»Gut.« Titch nickte. »Heute abend, spätestens morgen, wirst du einen klaren Kopf brauchen.«
»Und wozu?«
»Wir können nicht hierbleiben«, antwortete Titch. »Es war schon gefährlich genug, herzukommen. Die Palastgarde durchsucht jedes Haus. Es gibt einen Ort, an dem wir uns verbergen können, aber ich bin nicht sicher, ob wir dort willkommen sind. Die Leute, denen er gehört, sind nicht...« Er zögerte, suchte sichtlich nach Worten und rettete sich in ein fast verlegenes Lächeln. »Nun, nicht unbedingt das, was du als meine Freunde bezeichnen würdest.«
Skar sah ihn fragend an, aber Titch schien der Meinung zu sein, daß er für den Moment genug gesagt hatte, dann wechselte er abrupt das Thema. »Es ist schlimmer, als ich dachte«, sagte er. »Sie müssen fast alle Krieger ausgeschickt haben. Jede Straße wird bewacht, und fast täglich kommen Karawanen mit Gefangenen vorbei.« Er stand auf, sah Skar fragend an und streckte die Hand aus. »Kannst du gehen? Nur ein paar Schritte?«
Skar war ganz und gar nicht sicher, aber er nickte tapfer, schwang die Beine vom Bett und wäre prompt auf die Nase gefallen, hätte Titch ihn nicht gedankenschnell aufgefangen. Da ist noch mehr, hallten Skars Worte hinter seiner Stirn nach. Etwas in dir. Du wirst sterben.
Er verscheuchte den Gedanken, löste in einem Anflug von fast kindischem Trotz seine Hand aus Titchs Pranke und schleppte sich aus eigener Kraft durch das Zimmer. Titch runzelte vielsagend die Stirn, enthielt sich aber jeden Kommentars und folgte ihm schweigend.
Die Tür führte auf einen kurzen, fensterlosen Korridor hinaus, der wiederum in einem geräumigen Zimmer endete, das eine Art Mischung aus Wohn-, Schlaf- und Kochraum zu sein schien, denn es gab eine Anzahl sehr großer, strohgedeckter Betten und einfacher hölzerner Möbel, und unter einem sechseckigen Rauchloch unter der Decke eine offene Feuerstelle, in der im Moment allerdings keine Glut brannte. Die Tür nach draußen stand offen, und das Licht verriet Skar, daß es fast Mittag sein mußte. Er hatte länger geschlafen, als er angenommen hatte. Seltsam, daß er sich trotzdem noch immer müde und erschöpft fühlte.
Das Zimmer war nicht leer. Auf einem der Schemel hockte ein runzeliger Quorrl, der Titch und ihn stumm und mit dem leeren Blick eines uralten Greises ansah, und in einer Ecke neben der Tür spielten zwei Quorrl-Kinder mit buntbemalten Holzklötzchen. Der Greis reagierte nicht auf ihr Eintreten, aber die beiden Kinder sprangen hoch und eilten quietschend auf sie zu.
Skar wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als die beiden häßlichen Kreaturen näher kamen. Er hatte niemals eine besondere Beziehung zu Kindern - gleich welcher Rasse - gehabt, aber diese beiden kleinen grünen Dinger mit ihren schlaffen Krötengesichtern und den übergroßen Händen und Füßen waren das mit Abstand Abstoßendste, was er seit langer Zeit gesehen hatte. Sie hatten keine Schuppen, wie Titch oder die anderen erwachsenen Quorrl, die Skar bisher gesehen hatte, sondern eine grüne, wabbelige Haut, die schleimig aussah und außerdem ein paar Nummern zu groß schien, so daß sie fast so runzelig wirkte wie die des alten Mannes auf dem Schemel. Ihre Gesichter waren so häßlich wie die von erwachsenen Quorrls, ohne jedoch die barbarische Kraft zu haben, die die Schuppenkrieger trotz allem stark und beeindruckend wirken ließ. Er mußte sich beherrschen, um nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen, als sich einer der jungen Quorrl an Titch vorbeidrängte und neugierig die Hand nach ihm ausstreckte.
Titch verscheuchte ihn mit einer ärgerlichen Bemerkung, als hätte er Skars Gefühle erraten. Die kleine Kröte wich tatsächlich ein paar Schritte zurück, hörte aber nicht auf, Skar anzustarren, während das zweite Quorrl-Kind an Titchs Bein herumzerrte und dabei hohe, unangenehm quiekende Töne ausstieß.
Skar konnte sich gerade noch beherrschen, Titch nicht dankbar zuzunicken, als der Quorrl auch das zweite Kind wegjagte und ihn mit raschen Schritten zur Tür führte. Er fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut; Titch mußte merken, welches Unbehagen ihm der Anblick der Jungen bereitete.
Aber der Quorrl verlor kein Wort darüber, sondern wartete stumm, bis Skar neben ihm auf den Hof hinausgetreten war. Dann deutete er nach rechts. »Cron erwartet uns. Du wirst mit ihm reden müssen.«
Skars Blick folgte der Geste des Quorrl. Das Haus, in dem er erwacht war, war nur eines von einer ganzen Anzahl, und nicht einmal das größte. Was Titch als Gut bezeichnet hatte, war beinahe schon eine kleine Stadt für sich, von einer doppelt mannshohen Palisadenwand umgeben und kaum weniger groß als das Dorf, in dem sie gewesen waren. Zur Linken erstreckte sich eine gewaltige, mehrfach unterteilte Koppel, in der sich im Moment nur ein knappes Dutzend Pferde aufhielten, die aber mit Leichtigkeit Hunderte von Tieren aufnehmen konnte, rechts und links davon lehnten sich große, aus Holz und Stein erbaute Gebäude an die Palisadenwand. Die Fenster waren allesamt klein und schießschartenähnlich, die Türen so massiv, wie er es auch schon im Dorf erlebt hatte. Die ganze Anlage machte auf ihn eher den Eindruck einer Festung als eines Gutshofes.
Auch das Gebäude, auf das sie nun zusteuerten, wirkte wie eine kleine Burg. Über seinem flachen, zwei Stockwerke über dem Boden befindlichen Dach reckte sich ein wuchtiger Turm mit steinernen Zinnen, und die Fenster waren so schmal, daß Skar kaum einen Arm hätte hindurchstrecken können. Der Anblick dieses Hofes - und jetzt, im nachhinein, auch der der Stadt, in die sie am ersten Morgen gekommen waren - wollte nicht so recht zu Titchs Worten passen, nach denen die Quorrl im Grunde ein friedliebendes Volk waren. Aber Skar verbiß sich auch diese Frage und beeilte sich, Titch zu folgen, der mit weit ausgreifenden Schritten den Hof überquerte. Erneut fiel Skar das dumpfe Grollen und Dröhnen auf, das er schon bei seinem Erwachen gehört hatte; ein Ton, der hier draußen lauter und deutlicher war, den er aber noch immer nicht richtig einordnen konnte. Es klang wie ferner Donner, zugleich aber auch ganz anders, das Geräusch eines Erdbebens, das Dröhnen eines Wasserfalles, von allem etwas und nichts. Er hätte Titch gerne danach gefragt, aber der Quorrl ging so schnell, daß er Mühe hatte, überhaupt mit ihm Schritt zu halten.