Der Eindruck, sich in einer Festung zu befinden, verstärkte sich noch, kaum daß sie das Hauptgebäude betreten hatten. Hinter der Tür - die aus zollstarkem, eisenhartem Holz bestand und zusätzlich mit breiten Streifen aus Metall verstärkt war - befand sich nur ein winziger Raum mit einer zweiten Tür aus daumendicken Eisenstäben, die zwar nicht verschlossen war, aber ganz den Eindruck machte, als müßte selbst einer von Anschis Drachen Mühe haben, sie aufzubrechen. Jedem anderen wäre diese Tür nur sonderbar vorgekommen, aber Skar sah sie mit den Augen eines Kriegers, und er brauchte nur eine halbe Sekunde, um zu begreifen, was diese Kammer wirklich war: eine tödliche Falle für jeden, der die Außentür mit Gewalt aufbrechen würde. Die Decke war niedrig, zumindest für Quorrl-Maßstäbe, und wies eine Anzahl kleiner, runder Löcher auf, über deren Bewandtnis Skar ganz bestimmte Vorstellungen hatte. Dieses Haus war eine Festung. Eine, die selbst Skar sich anzugreifen zweimal überlegt hätte. Mindestens.
»Wer ist dieser Cron?« fragte er, während er Titch durch den schmalen Korridor folgte, der sich der Kammer anschloß. »Der Besitzer dieses Gutes«, antwortete Titch.
»Das meine ich nicht. Ist er ein Freund von dir?«
»Ein Freund?« Titch sprach das Wort auf eine Art aus, die Skar alarmiert zu ihm aufblicken ließ. »Vielleicht«, sagte er nach einer Weile.
»Vielleicht?«
»Jedenfalls hat er uns Unterschlupf gewährt und nicht sofort umgebracht.«
»Oder ausgeliefert«, fügte Skar hinzu. »Wir bringen ihn in Gefahr, dadurch, daß wir hier sind, nicht wahr?«
Titch zuckte mit den Schultern, blieb stehen und stieß mit der linken Hand eine Tür auf, die Skar nicht einmal bemerkt hatte. Das Licht hier drinnen war sehr schwach. Er merkte sich die Frage für später - er hatte nicht vor, Titch die Antwort zu schenken - und trat hinter dem Quorrl durch die Tür.
Cron saß auf einem Stuhl, der selbst für die Maßstäbe seines Volkes geradezu gigantisch war - aber er brauchte ihn auch. Er war der mit Abstand größte Quorrl, dem Skar jemals begegnet war. Selbst sitzend war er fast so groß wie Titch, der auch für einen Quorrl groß war. Im Stehen mußte er ihn um zwei Haupteslängen überragen. Seine Schultern waren geradezu lächerlich breit, und seine Pranken schienen groß genug, den Brustkorb eines normal gewachsenen Menschen zu umspannen - jede für sich. Sein Gesicht war breit, brutal, selbst für einen Quorrl, und von einer breiten, gezackten Narbe verunstaltet, beinahe wie das Skars, nur daß das Schicksal mit Cron nicht ganz so gütig umgesprungen war wie mit Skar: die Narbe verlief über sein Kinn, spaltete seinen Mund und schickte einen gezackten Ausläufer durch den braunen Krater, der einmal sein linkes Auge gewesen sein mußte. Es sah aus, als hätte jemand versucht, sein Gesicht mit einer Axt zu spalten.
»Erschreckt dich, was du siehst?«
Crons Stimme war schrill, ein hysterisches Altmännerkeifen, das ganz und gar nicht zu seiner äußeren Erscheinung paßte, aber Skar begriff auch fast im gleichen Moment, daß es nicht seine wirkliche Stimme war: Die Narbe zog sich weiter über Crons Hals und verschwand im Kragen seines bestickten Gewandes. Wahrscheinlich waren auch seine Stimmbänder verletzt worden.
»Nein«, antwortete er ruhig. »Ich frage mich, wer das getan hat. Und vor allem, womit.«
»Ein Mensch«, antwortete Cron. »Aber keine Sorge. Es ist lange her. Er hat bezahlt. Du bist Skar?«
»Falls du nicht noch mehr verletzte Satai aufgenommen hast, ja«, antwortete Skar lächelnd.
Er registrierte Titchs warnenden Blick zu spät. In Crons einzigem Auge blitzte es wütend auf, und seine gewaltigen Pranken zuckten, fast als wolle er Skar packen und mit einer einzigen ärgerlichen Bewegung zermalmen. Er beherrschte sich, aber Skar mahnte sich innerlich zur Vorsicht. Cron schien nicht über viel Humor zu verfügen.
»Ich bin Skar, ja«, fügte er rasch hinzu. »Und du mußt Cron sein.«
»Ja. Du hast von mir gehört?«
Skar schüttelte den Kopf.
»Ich habe ihn sofort zu Euch gebracht«, sagte Titch. »Wie Ihr befohlen habt.«
Befohlen? Skar mußte sich beherrschen, um den Quorrl nicht abermals erstaunt anzublicken. Er hatte bisher geglaubt, daß es niemanden gab, von dem Titch Befehle entgegennahm. Wer immer dieser Cron war, er mußte über erstaunliche Macht verfügen. »Was wollt ihr hier?« fragte Cron.
Skar verstand den Sinn der Frage nicht sofort. Hilfesuchend sah er Titch an, aber der Quorrl wich seinem Blick aus.
»Ich... ich begreife nicht ganz, was Ihr meint, Cron«, sagte er vorsichtig. »Titch brachte mich her, weil ich verletzt wurde, und -«
»Das meine ich nicht.« Crons Zeigefinger - der fast so dick wie Skars Handgelenk war - stocherte drohend nach seinem Gesicht. »Das Menschenmädchen und du - was wollt ihr in unserem Land? Hat euch niemand gesagt, daß es für Menschen verboten ist, hierher zu kommen?«
»Doch.« Skar sah wieder zu Titch auf, aber der Quorrl wich ihm noch immer aus. Aus welchem Grund auch immer - von Titch hatte er keinerlei Hilfe zu erwarten. Er beschloß, das einzige zu tun, was ihm vernünftig erschien, und so nahe an der Wahrheit zu bleiben, wie nötig. »Aber ich hatte keine große Wahl.«
»Als hier zu sterben?« Cron lachte. »Du weißt nicht, wovon du sprichst, Satai. Wenn du der Tempelgarde in die Fänge gerätst, wirst du dir wünschen, nie geboren zu sein.«
»Möglich«, antwortete Skar achselzuckend. »Aber ich hatte nicht vor, mich fangen zu lassen. Und was ich zu tun habe, ist wichtiger als mein Leben.«
»Papperlapapp!« Cron machte ein unflätiges Geräusch.
»Nichts ist wichtiger als das Leben, Satai. Wenn du stirbst, dann kann auch die Welt zum Teufel gehen, denn du hast nicht mehr viel davon, wenn sie sich weiterdreht. Was ist es, was du so Wichtiges in Cant zu erledigen hast?« Er kicherte. »Die Welt retten?«
»Genau das«, antwortete Skar.
Er konnte regelrecht sehen, wie dem Quorrl das Lachen im Halse stecken blieb. Drei, vier Sekunden lang starrte er Skar irritiert an, dann wandte er sich mit einem Ruck an Titch und kreischte ein paar Worte mit seiner unangenehm fistelnden Stimme, die Skar nicht verstand. Titch antwortete sehr ruhig, aber auch in sehr bestimmten Ton darauf, und etwas Neues, für Skar nicht genau zu Deutendes trat in Crons Blick, als er sich wieder an ihn wandte.
»Du willst also ins Land der Toten, wie Titch erzählt hat«, sagte er. »Was willst du dort, außer selbst zu einem Toten werden?«
Plötzlich wurde Skar zornig. Er hatte das Gefühl, eine Farce zu erleben, in der nicht nur Cron, sondern auch Titch mitspielte. Und er war einfach zu müde, um Zeit damit zu verschwenden. »Verdammt, was soll das?« schnappte er. »Wenn Titch dir schon alles erzählt hat, was soll dann dieses Verhör? Er hat dir die Wahrheit gesagt, und du wirst auch von mir nichts anderes hören!«
»Vielleicht will ich ja belogen werden«, antwortete Cron. »Vielleicht gefällt mir ja die Wahrheit nicht. Wer weiß - vielleicht gehöre ich zu denen, die nicht begeistert von der Vorstellung sind, einem Menschen dabei zu helfen, unsere Heiligtümer zu entweihen.« Er beugte sich in seinem Sessel vor, einer lebenden Lawine aus Fleisch und Panzerplatten gleich, die Skar einfach zermalmen mußte, wenn sie sich auch noch eine Winzigkeit weiter bewegte. »Vielleicht sollte ich euch der Tempelgarde übergeben, oder besser noch, den Bastarden.«