»Meint ihr nicht, daß sie hier ganz besonders aufmerksam nachsehen werden?« fragte Skar.
»Sicher«, antwortete Cron. »Aber sie suchen nach einem Satai, der den Göttern den Krieg erklärt hat. Nicht nach einem verkrüppelten Mann, der kaum genug Kraft hat zu stehen. Geh!« Er unterstrich das letzte Wort mit einer herrischen, befehlenden Geste, und Skar trat widerstrebend durch die Gittertür. Cron verriegelte das Schloß hinter ihm wieder und wandte sich ohne ein weiteres Wort zum Gehen, aber Titch blieb noch einen Moment da. Auch er schwieg, aber in seinem Blick war etwas, was Skar schaudern ließ; ein stummes Flehen um Vergebung, als wäre das, was er hier sah, noch nicht einmal das Schlimmste. Drei, vier Sekunden lang blickten sie einander nur an, dann fuhr der Quorrl herum und rannte aus dem Keller.
Widerstrebend drehte sich Skar wieder herum und blickte in die Reihe ausgezehrter, schmutziger Gesichter, die ihm entgegenstarrte. Der Anblick erfüllte ihn mit Grauen, zugleich aber auch mit Ekel und Abscheu, obwohl es Männer und Frauen seines Volkes waren, denen er gegenüberstand. Der Gestank war ekelerregend. Auf dem Boden lag verfaultes Stroh, dazwischen Kot und Unrat. Ihm wurde übel. Er machte einen Schritt, blieb 221 wieder stehen und sah sich hilflos um.
»Wer... wer seid ihr?« fragte er. »Wie kommt ihr hierher, und wie -«
»Gib dir keine Mühe, Skar«, sagte eine Stimme neben ihm. »Sie können dir nicht antworten.«
Eine eisige Hand schien nach Skars Herzen zu greifen. Er fuhr herum, riß erschrocken die Augen auf und unterdrückte nur noch im letzten Moment einen Schrei, als er erkannte, wer da zu ihm gesprochen hatte.
»Kiina!«
Das Mädchen war so schmutzig und heruntergekommen wie die anderen Gefangenen, und es hockte mit angezogenen Knien in der äußersten Ecke des Verließes, so daß er es bisher nicht einmal gesehen hatte. Kiina blickte ihn an, aber sie machte keine Anstalten, aufzustehen und zu ihm zu kommen. Als er zu ihr ging, sah er, daß sie gefesselt war: ein daumenbreiter Metallring spannte sich um ihr rechtes Fußgelenk, der mit einer Kette an der Wand befestigt war.
Eine Hand griff nach ihm, als er sich auf Kiina zubewegte. Instinktiv schüttelte Skar sie ab und fuhr herum, als andere Finger sich in sein Haar zu krallen versuchten. Ein schmutziges, vom Wahnsinn gezeichnetes Gesicht tauchte vor ihm auf, Finger tasteten nach seinen Augen. Skar schlug sie beiseite und wich einen Schritt zurück, aber der Mann folgte ihm, die Hände wie Krallen nach seinem Gesicht ausgestreckt und kleine, quietschende Töne ausstoßend. Speichel lief über sein Kinn und zeichnete glitzernde Spuren in den eingetrockneten Schmutz darauf. »Verschwinde«, sagte Skar. »Laß mich in Ruhe!«
Der Mann schien seine Worte nicht zu verstehen. Er kam weiter näher und versuchte abermals, Skars Gesicht zu berühren. Skar packte ihn, versetzte ihm einen Stoß, der ihn rückwärts taumeln und zusammen mit drei oder vier weiteren Gefangenen zu Boden fallen ließ, aber sofort waren andere heran, fünf, sechs, sieben Männer und Frauen, die in eindeutig drohender Haltung auf ihn zutraten. Aus dem Chor wimmernder Stimmen war ein drohender Singsang geworden. Und plötzlich bekam Skar Angst. »Verschwindet«, sagte er drohend. »Kommt nicht näher.« Niemand reagierte auf seine Worte. Skar wich einen weiteren Schritt zurück, spürte, daß er fast an der Wand angelangt war und spreizte die Beine. Drohend hob er die Arme und ballte die rechte Hand zur Faust.
Als der erste Mann heranstürmte, empfing ihn Skar mit einem Fußtritt in den Leib, der ihn mit einem gurgelnden Laut zusammenbrechen ließ. Einen zweiten ließ er einfach an sich vorbeistürmen und stellte ihm ein Bein, so daß er wuchtig gegen die Wand fiel und wimmernd liegenblieb. Und noch ehe die anderen Zeit fanden, sich zu so etwas wie einem koordinierten Angriff zu formieren, sprang Skar seinerseits auf sie zu. Er schlug einen Mann mit dem Ellbogen nieder, rammte einem zweiten das Knie in den Leib und ließ einen dritten Angreifer, der sich von hinten auf ihn zu werfen versuchte, wie ein lebendes Geschoß über seinen Rücken fliegen.
Skar war sich darüber im klaren, daß er keine sehr guten Aussichten hatte, diesen Kampf zu gewinnen. Er war stärker als sie, besser in Form und vor allem ein Kämpfer, kein halb verhungerter Mann, den Krankheit und Schmerz halb wahnsinnig gemacht hatte, aber sie waren viele. Zu viele für ihn. Wenn er diesen ungleichen Kampf gewinnen wollte, dann schnell.
Er täuschte einen Schritt zur Seite, wartete eine Zehntelsekunde, bis gleich drei der Angreifer seine Bewegung nachzuvollziehen versuchten, und drehte sich blitzschnell um seine Achse. Sein Fuß kam hoch und landete mit der ganzen furchtbaren Wucht der Drehung im Gesicht eines der Gefangenen. Skar hörte Knochen brechen. Der Mann fiel kreischend auf die Knie, verbarg das Gesicht in beiden Händen und spie Blut und Zähne auf den Boden. Skar sprang vor, stieß ihn mit dem Ellbogen vollends nieder und schlug einen zweiten Mann nieder, der ihn zu umgehen versuchte.
Aus den Augenwinkeln sah er einen Schatten auf sich zurasen. Instinktiv riß er den Arm hoch, blockte den Hieb mit dem Unterarm ab und schlug schnell und hart zurück.
Im nächsten Momemt fiel er auf die Knie und krümmte sich selbst vor Schmerz. Er hatte mit der Linken zugeschlagen, blitzschnell und ganz instinktiv, wie er es seit Jahrzehnten gewöhnt war, aber er hatte keine linke Hand mehr, sondern nur noch einen pochenden, kaum verheilten Stumpf, der auf die grobe Behandlung mit unerträglichen Schmerzen reagierte.
Skar schrie. Es war so schlimm, daß er fast das Bewußtsein verloren hätte und sich nur noch mit Mühe aufrecht hielt. Schatten umgaben ihn. Das Johlen der Menge wurde triumphierend. Finger krallten sich in sein Haar und rissen seinen Kopf zurück, und eine Handkante landete in einer ungeschickten Imitation seines eigenen Hiebes an seiner Kehle; sehr hart, aber schlecht gezielt. Der Schlag zerquetschte seinen Kehlkopf nicht, sondern sandte nur einen neuen Schauer schier unerträglicher Schmerzen durch seinen Hals. Er keuchte, riß sich mit aller Kraft los und taumelte irgendwie auf die Füße.
Er kämpfte wie ein Berserker. Es waren keine Satai-Techniken mehr, die er anwandte: er hieb und drosch und trat einfach wild um sich, halb wahnsinnig vor Schmerz und Angst, in einem Zustand dicht an der Grenze zur Bewußtlosigkeit, der ihn die Hiebe, die unentwegt auf ihn herunterprasselten, kaum mehr spüren ließ.
Und plötzlich war es vorbei. So schnell, wie sich die Gefangenen auf ihn gestürzt hatten, wichen sie wieder vor ihm zurück. In den weit aufgerissenen Augen des halben Dutzends Jammergestalten war nur noch Angst. Zwei Männer lagen reglos am Boden, zwei weitere krochen wimmernd und blutend davon. Skar hob die Arme.
»Nicht, Skar«, sagte Kiina. »Sie haben nur Angst. Laß sie.« Und für Bruchteile von Sekunden war die Wut wieder da, der alte, unbezwingbare Wille zu töten, nur daß er diesmal nicht von außen auf ihn einströmte, sondern aus einem Bereich tief im Grunde seiner Seele kam, das Flüstern seines Dunklen Bruders, der nach Blut verlangte. Und er war stark. Stärker als je zuvor. »Skar - nicht!«
Er machte einen weiteren Schritt, blieb stehen und drehte sich schwer atmend zu Kiina um, sah sie aber nur eine Sekunde lang an, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder den Männern zuwandte. Sie waren weiter vor ihm zurückgewichen, und in ihren Augen stand jetzt der gleiche Ausdruck wie vorhin, als sie Cron gesehen hatten. Sie hatten Angst. Aber das bedeutete nicht, daß sie sich nicht sofort wieder auf ihn stürzen würden, wenn er auch nur eine Sekunde unaufmerksam war.
Sehr langsam, und ohne die Gefangenen dabei völlig aus dem Auge zu lassen, ließ er sich neben Kiina in die Hocke sinken und sah sie an.
»Großer Gott, Kind, was ist passiert?« fragte er. Er keuchte. Alles drehte sich um ihn. Sein Herz hämmerte schnell und schmerzhaft, und sein Arm tat unerträglich weh. Der frische Verband, den Scrat am vergangenen Abend angelegt hatte, begann sich rot zu färben. »Wieso bist du hier? Was haben sie dir getan?«