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»Getan?« Kiina versuchte zu lächeln, aber unter all dem Schmutz und eingetrockneten Blut auf ihrem Gesicht wurde es eher eine Grimasse. »Sie haben mir nichts getan, Skar.«

»Das sehe ich!« sagte Skar wütend. »Ich bringe Cron um, wenn ich ihn in die Finger bekomme, das schwöre ich. Und Titch gleich dazu!«

»Sie haben mir nichts getan«, beharrte Kiina. »Sie haben mich nur gebunden, um mich zu schützen.« Kiinas Finger wanderten an ihrem Bein herab und glitten über das rostige Eisen des Fußrings. Die Haut darunter war aufgescheuert und blutig, und dem Schorf nach zu schließen, mußten die Wunden - so weit sie nicht unentwegt wieder aufgerissen wurden -, mehrere Tage alt sein.

»Zu schützen?« wiederholte Skar ungläubig.

»Den Gefesselten tun sie nichts«, antwortete Kiina mit einer Geste auf die Gestalten hinter Skar. »Frag mich nicht, warum, aber es ist so. Niemand hat mich angerührt, seit ich hier bin.«

»Du warst... die ganze Zeit über hier unten?«

Kiina nickte. »Vom ersten Moment an.«

»Ich bringe Titch um!« schwor Skar, und in diesem Moment meinte er es ganz genau so, wie er es sagte. »Dieses verdammte Ungeheuer!«

»Du tust ihm Unrecht«, sagte Kiina. »Es war nicht seine Schuld.«

Skar lachte schrill, aber Kiina schüttelte abermals und mit aller Überzeugung, die sie aufbringen konnte, den Kopf. »Dieses Monstrum Cron hat mich hier eingesperrt«, sagte sie. »Titch wollte es nicht, aber er hat ihm gar keine Wahl gelassen. Er hätte auch dich hierherbringen lassen, wenn Titch nicht sein Leben für dich verpfändet hätte.«

Skar schwieg verwirrt. Er verstand immer weniger, was hier vorging. Kiina hätte verzweifelt sein müssen, zumindest zornig, aber sie schien im Gegenteil fast dankbar. Einen Moment lang fragte er sich ernsthaft, ob er dabei war, den Verstand zu verlieren. Verstört sah er sich in der winzigen, mit Leibern vollgestopften Zelle um und versuchte vergeblich, die zerlumpten, stinkenden Gestalten als menschliche Wesen zu akzeptieren. Es gelang ihm nicht. Wenn diese Kreaturen jemals Menschen gewesen waren, dann hatte Cron ihnen alle Menschlichkeit schon vor langer Zeit genommen.

»Was ist das hier?« flüsterte er.

»Crons Sklaven«, antwortete Kiina. »Ich weiß nicht, wer sie sind und woher sie kommen.«

Skar zögerte. Sekundenlang hockte er einfach reglos da und starrte in die Reihe stummer Gesichter, die ihm voller Angst entgegenblickten, dann deutete er mit der gesunden Hand auf einen Mann, dessen Blick ihm nicht ganz so trüb und verwirrt erschien wie der der anderen.

»Du«, sagte er. »Wer bist du? Woher kommst du?«

»Er kann dir nicht antworten, Skar«, sagte Kiina noch einmal. »Ich weiß nicht einmal, ob er dich versteht. Aber selbst wenn, kann er nicht sprechen. Sie haben ihnen die Zungen herausgerissen.«

Seltsam - aber Skar erschrak nicht einmal besonders. Nach allem war auch diese weitere Grausamkeit nurmehr ein Tropfen in dem Ozean aus Entsetzen, in dem er zu ertrinken drohte. Er fragte sich, ob Titch wirklich glaubte, daß er sein Wort halten und nicht über das hier erzählen würde. Wenn ja, war er ein Narr. »Warum hat er es mir nicht gesagt?« murmelte er. Die Frage galt viel mehr ihm selbst als Kiina, aber sie antwortete trotzdem. »Titch?« Sie lachte leise. »Hättest du es ihm gesagt, wenn es umgekehrt gewesen wäre?«

»Daß wir Sklaven halten?« Skar zuckte bewußt gleichgültig mit den Achseln. »Und? Ich kenne einige Männer, die sich Quorrl als Arbeitssklaven ...«

Er sprach nicht weiter, als er Kiinas Blick begegnete. Und er ahnte die Wahrheit, noch bevor das Mädchen sie aussprach. Im Innersten hatte er sie vom ersten Moment an geahnt. Keiner dieser Männer und Frauen war in der Verfassung, körperliche Arbeit zu leisten, nicht einmal die leichteste.

»Es sind keine Arbeitssklaven, Skar«, sagte Kiina ruhig. »Das hier ist Crons Vorratskammer.« Sie machte eine weit ausholende, zitternde Handbewegung. »Sie essen sie.«

17.

Die Krieger kamen mit dem ersten Licht des neuen Tages. Die beiden winzigen Fenster unter der Decke wurden zu grauen rechteckigen Löchern in der Wand, als Skar den Hufschlag hörte, einen dumpfen, nur allmählich näherkommenden Klang, der aber von jenem machtvollen Dröhnen durchdrungen war, das das Nahen sehr vieler Reiter verriet. Er hätte viel darum gegeben, an der Wand hinaufklettern zu können, um die Ankunft der Krieger zu beobachten, aber nur mit einer Hand und schwach, wie er war, erwies sich das als unmöglich. Außerdem hatte er Titchs Warnung nicht vergessen. Seine Rolle als halb verhungerter Gefangener hätte enorm an Glaubwürdigkeit eingebüßt, hätte man ihn in drei Metern Höhe unter der Decke klebend vorgefunden.

Und er hatte auch gar nicht mehr die Energie dazu. Dieses Verlies und vor allem das, was es bedeutete, hatten ihn erschüttert. Kiinas Worte hatten... alles zerstört. Er wußte nicht, ob er jemals wieder Vertrauen zu Titch würde haben können, ob er es jemals wieder über sich bringen würde, ihm in die Augen zu sehen. Er hatte versucht, den Quorrl zu hassen; zumindest Zorn auf ihn zu empfinden, aber nicht einmal das konnte er. Dabei waren es nicht einmal die bloßen Tatsachen selbst, die ihn so erschütterten. Kannibalismus war ihm nicht fremd; er war im Laufe seines Lebens auf mehr als ein Volk gestoßen, das Menschenfleisch aß, und unter ihnen waren auch Menschen gewesen. Was es so schlimm machte, was ihn nicht einfach nur erschütterte, sondern wirklich weh tat, war der Umstand, daß Titch es ihm nicht gesagt hatte.

Zumindest begriff er jetzt, warum die Quorrl auf Crons Hof so wenig Notiz von ihm genommen hatten. Der Anblick eines Menschen war nichts Besonderes für sie. Sein Geschmack wahrscheinlich auch nicht.

»Was sind das für Männer?« fragte Kiina, als der Hufschlag näher kam und den ganzen Hof über ihnen wie dröhnender Donner auszufüllen schien. Sie sah zum Fenster hoch. »Krieger, die uns suchen?«

Skar schüttelte langsam den Kopf. Er hatte über Titchs Worte nachgedacht, und trotz der Verbitterung, die er beim bloßen Gedanken an den Quorrl verspürte, glaubte er ihm. »Nein«, sagte er. »Jedenfalls nicht nur. Etwas geht hier vor.«

Kiina lachte rauh. »Was für eine tiefschürfende Erkenntnis, Satai.«

»Ich meine es ernst«, antwortete Skar. »Es ist nicht nur das hier. Irgend etwas... geschieht in diesem Land. Etwas Entsetzliches.« Und es war längst nicht nur die Desertation von Titchs Kriegern. Er hatte dieses Land nie zuvor gesehen, bis vor wenigen Tagen nicht einmal seinen Namen gewußt, und doch spürte er, daß die furchtbare Veränderung, die von ganz Enwor Besitz ergriffen hatte, auch vor den Grenzen Cants nicht Halt gemacht hatte. Etwas geschah in diesem Land, und jede lebende Kreatur mußte es spüren.

»Titch hat Angst«, sagte Kiina leise. Skar sah sie fragend an. »Er hat Angst, seit wir Cant erreicht haben«, fügte sie hinzu. »Hat er dir das gesagt?«

»Ich weiß es«, antwortete Kiina. »Ich spüre, wenn jemand Angst hat. Du hast auch Angst. Aber aus anderen Gründen als Titch.«

Skar antwortete nicht darauf. Sie hatten überhaupt wenig gesprochen in der letzten Stunde; was nicht zuletzt daran gelegen hatte, daß Kiina viel zu erschöpft gewesen war, um zu reden. Skar hatte sich neben sie gesetzt und die Gefangenen im Auge behalten, die in respektvollem Abstand zu Kiina und ihm auf dem Boden hockten, und sie hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt und war in einen unruhigen, fiebernden Schlaf gesunken, aus dem sie immer wieder hochgeschreckt war.