»Was wirst du tun, wenn du hier heraus bist?« fragte Kiina plötzlich.
»Wir«, verbesserte Skar. »Es muß heißen - was werden wir tun, wenn wir hier heraus sind.«
»Wir?« Kiinas Lippen verzogen sich zu der schwachen Karikatur eines Lächelns. »Ich glaube nicht, daß ich es schaffe«, sagte sie. »Ich bin so...«
»Müde?« schlug Skar vor. »Das ist kein Wunder, nach dem, was du mitgemacht hast. Cron wird dafür bezahlen.«
»Das ist es nicht«, antwortete Kiina. »Ich fühle mich schlecht, Skar. Nicht erst seit zwei Tagen. Ich weiß nicht, was es ist. Ich bin... manchmal habe ich das Gefühl, innerlich zu brennen.«
»Der Weg hierher war sehr anstrengend«, sagte er. »Du bist kein Satai.« Er hätte ihr sagen können, was der wirkliche Grund für ihre Schwäche war, das verzehrende Feuer, das noch immer in ihr loderte und sie töten würde, wenn es ihnen nicht gelang, das Heilige Wasser der Quorrl zu erreichen. Aber er tat es nicht. Kiina mochte die Wahrheit ahnen, aber solange sie sie nicht wirklich wußte, bestand auch nicht die Gefahr, daß sie verzweifelte und einfach aufgab. Wer war er, ihr diese barmherzige Lüge zu verwehren?
»Du hast darauf bestanden, mich zu begleiten«, sagte er. »Jetzt bestehe ich darauf, daß du es auch weiter tust. Du kannst später sterben, wenn du unbedingt willst. Aber jetzt erlaube ich es nicht.«
Kiina lächelte pflichtschuldig. »Also gut«, sagte sie matt. »Was also werden wir tun, nachdem wir hier heraus sind - und Cron den Hals umgedreht haben?«
Skar machte eine Kopfbewegung zum Fenster hinauf. »Titch will noch immer nach Ninga - wo und was immer dieser Ort auch ist. Und ich habe eine Verabredung weiter im Norden.«
»Im Land der Toten.«
»Sie nennen es wohl so, ja.«
»Du willst sie immer noch ganz allein besiegen?«
»Ich habe sie auch ganz allein geholt«, antwortete er. Aber das war nicht die wirkliche Antwort. Er wollte sie nicht besiegen. Und er konnte es auch nicht. Niemand konnte die Kreatur der Sternengeborenen besiegen. Er wußte, daß dort im Norden, irgendwo noch jenseits der Grenze des Quorrl-Gebietes, die Entscheidung fallen würde, aber sie würde anders aussehen, als er sich jetzt schon vorzustellen vermochte. Ein Kampf? Er dachte an das flammende Ungeheuer, das Ennart in seinem Wahnsinn aus den Abgründen der Zeit heraufbeschworen hatte, und plötzlich war er fast sicher, daß es auf ihn wartete, im Norden, im Land der Toten. Der Dämon - und sein Dunkler Bruder. Der Daij-Djan war nicht besiegt, auch das begriff er plötzlich mit unerschütterlicher Gewißheit. Wie so vieles war auch dieser Gedanke nur ein Wunsch gewesen, die verzweifelte Hoffnung, wenigstens der schwarzen Chimäre entkommen zu sein. Aber er war noch da, tief verborgen in ihm, eingewoben in einen schwarzen Kokon aus Vergessen und Furcht, aber bereit für den Moment, an dem er endgültig hervorbrechen würde. Er hatte ihn einmal besiegt, ganz einfach, indem er ihn mit etwas konfrontierte, was ihm fremd war: der Lüge. Ein zweites Mal würde es ihm nicht gelingen, das wußte er.
»Das ist... keine Antwort, Skar«, sagte Kiina. Irgend etwas an der Art, in der sie sprach, ließ Skar sich zu ihr herumdrehen, und als er in ihre Augen blickte, überlief ihn ein eisiger Schauer. Sie war blaß und schmutzig und sah krank aus, aber das Entsetzen in ihrem Blick hatte einen anderen Grund.
»Du wirst sterben«, sagte sie leise, als er nicht antwortete. »Du weißt das. Du... du hast es die ganze Zeit über gewußt. Du gehst dorthin, um zu sterben.«
»Unsinn«, antwortete Skar. »Du sprichst in letzter Zeit ein bißchen zu viel vom Tod.«
»Du wirst sterben und mich allein lassen«, beharrte Kiina. »Ich weiß es. Was immer dich dort erwartet, es wird dich umbringen.«
Und das muß es auch, dachte er. Denn - wenn es das nicht tut, wird es mich in etwas verwandeln, was tausendmal schlimmer als der Daij-Djan ist.
Er sprach diesen Gedanken nicht aus, und Kiina kam auch nicht mehr dazu, eine weitere Frage zu stellen, denn in diesem Moment wurde die Tür auf der anderen Seite des Gitters aufgestoßen, und eine Anzahl Quorrl betraten den Kerker. Unter den Gefangenen brach sofort Unruhe aus, so daß Skar die Schuppenkrieger im ersten Moment nicht richtig erkennen konnte, aber eine der grüngrauen Gestalten überragte die anderen um mehr als Haupteslänge. Cron. Skar hielt nach Titch Ausschau, konnte ihn aber in dem Durcheinander von schuppigen Leibern nicht entdecken, und er wagte es nicht, zu aufmerksam hinzusehen. Eine Peitsche knallte. Die Gefangenen, die nicht gefesselt waren, wichen wie am Morgen angstvoll zur Wand zurück, als die Tür in der Gitterwand geöffnet wurde. Skar senkte hastig den Blick, zog die Knie an den Leib und bettete die Stirn darauf, als wäre er zu matt, um auch nur den Kopf zu heben, blinzelte aber aus den Augenwinkeln aufmerksam zur Tür hinüber. Cron und zwei weitere Quorrl betraten die Zelle. Die beiden Männer neben Cron waren Krieger, riesige Gestalten in den mattschimmernden Rüstungen der Tempelgarde, mit Schwertern und kurzen, stachelschwänzigen Peitschen bewaffnet, mit deren Stielen sie die Gefangenen auf Abstand hielten. Skar versuchte, einen Blick auf Crons Gesicht zu erhaschen. Seine Züge waren so alt und häßlich, wie er sie in Erinnerung hatte, und sein einziges Auge loderte im Widerschein der Fackel wie ein Stück glühender Kohle. Und trotzdem war Skar sicher, so etwas wie Angst auf dem Gesicht des Quorrl zu erkennen.
Die drei schuppigen Riesen gingen bis zur Mitte des Verlieses und blieben stehen. Cron begann mit schneller, fistelnder Stimme auf einen der Krieger einzureden, aber Skars Aufmerksamkeit galt eher dem zweiten Quorrl. Der Krieger sah langsam in die Runde, und er tat es mit einer Aufmerksamkeit, die ein wenig über das zu erwartende Maß hinausging. Er suchte etwas. Jemanden. Titch hatte sich getäuscht. Es mochte noch einen anderen Grund geben, aus dem die Quorrl hier waren, aber sie waren auch gekommen, um nach Kiina und ihm zu suchen.
Einem Mädchen von zwanzig Jahren und einem Mann, der ihr Vater sein konnte, dachte er. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß der Quorrl ihn einfach erkennen mußte. Er hätte nicht neben Kiina bleiben dürfen, sondern sich unter die anderen Gefangenen mischen müssen, spätestens, als die Quorrl kamen. Jetzt war es zu spät.
Der Quorrl kam näher, vielleicht durch Zufall, vielleicht nicht, aber Skar spürte, daß er irgend etwas tun mußte. Er konnte den Blick der dunklen Fischaugen regelrecht spüren. Mühsam hob er den Kopf, sah dem Quorrl einen Moment lang direkt ins Gesicht und ließ sich dann wieder zusammensacken. Der Quorrl musterte ihn aufmerksam, sehr aufmerksam, ihn und Kiina. Wenn er Verdacht schöpfte, waren sie verloren. Vielleicht - nur vielleicht - konnte er diese beiden Quorrl und auch Cron besiegen, wenn er den Vorteil der Überraschung ausnutzte; aber draußen auf dem Hof mußten Dutzende von Kriegern sein.
»Schlag mich«, flüsterte er, ohne die Lippen zu bewegen. Kiina sah ihn verwirrt an. »Frag jetzt nicht, sondern schlag mich mit der Kette. So fest du kannst.«
Kiina verstand ganz offensichtlich kein Wort; und sie reagierte auch nicht. Skar hob den Kopf, musterte den Quorrl eine Sekunde lang mit leerem Blick und drehte sich dann zu Kiina um. Seine rechte Hand griff nach ihrer Brust und drückte hart und schmerzhaft zu, so daß sie ein überraschtes Keuchen ausstieß. Instinktiv versuchte sie ihn abzuschütteln, aber Skar hielt sie unbarmherzig fest und machte Anstalten, sich mit dem ganzen Körper auf sie zu werfen. Kiina wehrte sich immer noch nicht. Ein Peitschenhieb traf seinen Rücken und warf ihn zu Boden. Skar schrie vor Schmerz, rollte herum und riß schützend die Arme über das Gesicht, als die Peitsche des Quorrl ein zweites Mal auf ihn herabsauste. Die dünnen, mit eisernen Stacheln besetzten Lederriemen rissen seine Haut auf. Blut lief über seine Unterarme und sein Gesicht. Er schrie abermals, krümmte sich vor Schmerz und verlor fast das Bewußtsein, als der Quorrl ihn in die Seite trat. Noch ein weiterer Hieb, und er würde entweder sterben oder aufspringen und sich wehren; was auf das gleiche hinauslief.