Die Sonne ging unter. Durch die beiden winzigen Fenster unter der Decke fiel jetzt der flackernde Schein zahlreicher Feuer, die auf dem Hof entzündet worden waren. Sie hörten Lärm: Gelächter, Stimmen, schrille, atonale Laute, die vielleicht Musik sein mochten, das Wiehern zahlreicher Pferde, und einmal das Klirren von Waffen, das aber nicht von Kampflärm, sondern von Gelächter und anfeuernden Rufen untermalt wurde. Und eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang kam Titch zurück.
Er war nicht allein. In seiner Begleitung befanden sich zwei weitere Quorrl aus Crons Gesinde und ein Krieger. Wie immer, wenn Quorrl das Verlies betraten, wichen die Gefangenen angstvoll vom Gitter zurück und preßten sich gegen die Wand. Aber etwas war anders, diesmal. Titch öffnete die Gittertür und betrat den Käfig zusammen mit den drei anderen Quorrl, blieb aber fast sofort wieder stehen und sah nachdenklich in die Runde. Schließlich deutete er auf einen hochgewachsenen, knochigen Mann, der sich in die entfernteste Ecke des Raumes gedrückt hatte. Die beiden Bediensteten neben ihm setzten sich in Bewegung. Der Mann schrie auf, begann zu wimmern und versuchte verzweifelt, an der Wand hinaufzuklettern. Die Angst gab ihm genug Kraft, daß er sogar einen, anderthalb Meter an Höhe gewann, ehe die Quorrl ihn erreichten und grob herunterzerrten. Er versuchte sich zu wehren, aber die Quorrl brachen seinen Widerstand mit brutalen Schlägen, die ihn halb bewußtlos in ihren Armen zusammensacken ließen.
»Was bedeutet das?« murmelte Kiina entsetzt. Sie hatte geflüstert, aber anscheinend trotzdem zu laut gesprochen, denn der Quorrl-Krieger wandte mit einem Ruck den Kopf und sah stirnrunzelnd in ihre und Skars Richtung. Skar machte eine hastige, verstohlene Geste mit der Hand, still zu sein. Menschliche Gefangene, die sprachen, waren sicher nicht dazu angetan, das Mißtrauen des Kriegers zu zerstreuen.
Außerdem wußte Kiina so gut wie er, was geschah. Titch war gekommen, um das Abendessen auszuwählen.
Erstaunlicherweise brach nicht einmal Panik unter den Gefangenen aus. Titch suchte drei weitere Opfer heraus, die seine Begleiter aus der Menge holten und mit kurzen Stricken zusammenbanden, aber niemand versuchte, etwas zu tun, zu fliehen, oder sich - wie Skar es getan hätte - auf die Quorrl zu stürzen, um lieber im Kampf zu sterben als gegessen zu werden. Diese Menschen hatten keinen Widerstandswillen mehr.
Schließlich wandte sich Titch mit einem zufriedenen Grunzen um, machte ein paar Schritte auf die Tür zu und blieb wieder stehen. Er drehte sich herum, sah stirnrunzelnd und mit schon fast übertrieben geschauspielerter Unschlüssigkeit zu Skar und Kiina hinüber und hob die Hand.
Kiina fuhr zusammen, war aber diesmal geistesgegenwärtig genug, keinen verräterischen Laut von sich zu geben. Die beiden Quorrl kamen auf sie zu, packten Kiina und Skar grob bei den Armen und zerrten sie in die Höhe. Skar wehrte sich, schon um nicht aufzufallen, aber nicht so sehr, daß die Quorrl einen Anlaß fanden, ihn niederzuschlagen. Wie die anderen Gefangenen wurden sie gebunden und mit groben Stößen aus dem Käfig bugsiert. Das Gehen fiel Skar überraschend schwer. Er hatte Mühe, mit den anderen Gefangenen mitzuhalten und handelte sich mehr als einen derben Rippenstoß - einen davon von Titch höchstpersönlich - ein, als sie die Treppe hinaufgingen und das Gebäude durchquerten. Er hatte fast den ganzen Tag zusammengekauert neben Kiina gesessen, so daß seine Muskeln verkrampft und hart waren, aber die Bewegung half nicht; das Ziehen in seinen Gliedern wurde eher schlimmer, als sie das Gebäude verließen und den Hof in Richtung auf Crons Wohnhaus hin zu überqueren begannen. Er mußte all seine Kraft aufwenden, um überhaupt mit den anderen Schritt zu halten und nicht einfach auf der Stelle zusammenzubrechen. Die Zeit, die ihm noch blieb, war kürzer, als er geglaubt hatte.
Der Hof hatte sich seit dem Morgen völlig verändert. In der Koppel neben dem Tor befanden sich jetzt an die fünfzig Pferde, die großen, kräftigen Schlachtrosse, die die Quorrl zu reiten pflegten, ein Gutteil von ihnen noch aufgezäumt. Ein halbes Dutzend spitzer, runder Zelte von weißer Farbe war in scheinbarer Unordnung auf dem Innenhof des Gutes aufgeschlagen worden, und zwischen ihnen brannten Feuer, an denen Skar die Silhouetten einer erschreckend großen Anzahl schuppiger Krieger erkannte. Niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen, aber als sie das Haus fast erreicht hatten, flog ein Stein aus der Dunkelheit heran und traf einen der Gefangenen an der Schulter. Der Mann stieß einen gellenden Schrei aus und fiel auf die Knie herab, und Skar fing im letzten Moment einen warnenden Blick Titchs auf, ehe er herumfahren und etwas Unüberlegtes tun konnte. Selbst ein wütender Blick mochte schon zu viel sein, in ihrer Lage.
Sie betraten das Haus nicht durch den Haupteingang, wie vor zwei Tagen, sondern durch eine Tür auf der rückwärtigen Seite, die so niedrig war, daß sich selbst Skar hindurchbücken mußte. Dumpfes Stimmengemurmel und das flackernde gelbe Licht brennender Pechfackeln schlug ihnen entgegen, und als sie an einer offenstehenden Tür vorbeikamen, gewahrte Skar eine große Anzahl bewaffneter Krieger, die an einer langen, überreich gedeckten Tafel saßen und speisten. Dem Gelächter, Schreien und Lärm nach zu urteilen, den sie verursachten, schienen sie auch dem Wein schon reichlich zugesprochen zu haben.
Schließlich erreichten sie einen kleinen, vollkommen leeren Raum auf der Rückseite des Hauses. Titch versetzte Skar - der am Ende der kleinen Gruppe ging - einen rüden Stoß in den Rücken, der ihn haltlos gegen die Wand taumeln ließ, wandte sich an den Krieger, der ihn und die beiden anderen Quorrl begleitete, und machte eine komplizierte, unterwürfig wirkende Geste. Der Krieger antwortete nicht, drehte sich aber nach ein paar Sekunden plötzlich herum und verließ das Zimmer.
»Schnell jetzt«, sagte Titch, kaum daß sich die Tür hinter dem Quorrl geschlossen hatte. »Wir müssen weg, ehe er zurück ist.« Er gab Skar gar keine Gelegenheit, irgendwelche Einwände oder Fragen vorzubringen, sondern packte ihn und Kiina grob an den Armen und schob sie auf eine zweite Tür auf der anderen Seite der Kammer zu. Einer der anderen Gefangenen versuchte ihnen zu folgen, aber Titch stieß ihn einfach beiseite. Sie durchquerten einen langen, fast völlig dunklen Korridor, einen weiteren Raum und eine kurze, aus Balken roh zusammengezimmerte Treppe, ehe es Skar endlich gelang, sich aus Titchs Griff zu befreien und stehenzubleiben.
»Verdammt, wohin bringst du uns?« fragte er. »Was geht hier überhaupt vor? Die Männer dort unten -«
»Werden getötet«, unterbrach ihn Titch grob. »Du kannst sie nicht retten. Das einzige, was du kannst, ist mit ihnen zu sterben. Willst du das?« Er wartete Skars Antwort nicht ab, sondern stieß eine weitere Tür auf, trat rasch in den dahinterliegenden Raum und kehrte nach kaum einer Sekunde zurück.
»Alles in Ordnung«, sagte er. »Kommt herein, schnell.«
Der Raum, den sie betraten, war fast so dunkel wie der Korridor draußen, aber überraschend behaglich eingerichtet. Ein Bett, das selbst für Quorrl-Verhältnisse groß war, nahm den Großteil des vorhandenen Raumes ein, dazu gab es einen gewaltigen Schrank mit geschnitzten Türen und eine Anzahl allesamt etwas zu groß geratener Sitzmöbel. An den Wänden hingen Bilder, die aber in dem schlechten Licht nur als verwaschene Farbflecke zu erkennen waren.
»Crons Schlafgemach«, sagte Titch, als er Skars fragenden Blick bemerkte. »Ihr seid völlig sicher. Niemand wird hier nach einem Menschen suchen.«
»Dann suchen sie uns also doch«, sagte Kiina.
Titch schwieg eine Sekunde, dann nickte er. »Ja. Aber keine Sorge. Sie wissen, daß wir auf dem Weg nach Ninga sind, aber das ist auch alles. Cant ist groß. Und niemand weiß, wie ihr ausseht.«
»Und du?« fragte Skar.