»Du hast recht«, sagte Ennart. Er war jetzt wieder sehr ruhig. So schnell er die Beherrschung verloren hatte, so rasch gewann er sie wieder zurück. »Auch wir kennen nur noch wenige Geheimnisse der Alten.« Er machte eine weit ausholende Geste, die das Zimmer und den ganzen Turm einschloß. »Was du hier siehst, Satai, ist alles, was geblieben ist. Du wirst Wunder über Wunder erleben, und doch ist all dies nichts gegen die Welt, wie sie war, ehe dein Volk und das meine sich gegenseitig vernichteten.« Plötzlich war es seine Stimme, die bitter wurde. »Es sind... Trümmer. Ihr Vermächtnis, das noch immer da ist, nach all dieser Zeit, und noch immer mächtig genug, die Welt zu erschüttern. Wir haben gelernt, einige ihrer Maschinen zu benutzen, und wir haben einen Schatten ihres alten Wissens zurückgewonnen. Aber im Grunde wissen wir nichts. Wir kratzen die alten Reste eines Zeitalters zusammen und versuchen, eine neue Welt daraus zu bauen.«
»Indem ihr die alte zerstört?«
»Wenn wir das wollten, hätten wir es längst getan«, sagte Ennart ruhig. »Die Waffe, die Elay zerstörte, hätte auch Ikne treffen können, oder irgendeine andere Stadt. Sie kann es noch. Aber das wollen wir nicht. Der Wahnsinn muß ein Ende haben. Was dir grausam erscheinen mag, ist notwendig. Auch das Messer eines Arztes fügt Schmerzen zu, wenn es schneidet.«
»Aber es schneidet nur die Krankheit aus dem Körper, nicht das Leben«, widersprach Skar. »Ist es das, als was du uns siehst? Als Krankheit? Als Geschwür, das man wegschneiden muß?«
»Bitte, Skar.« Ennarts Blick flatterte, und Skar spürte, daß es ihm gelungen war, ihm weh zu tun. Er wußte nicht einmal, ob er mit seinen Worten der Wahrheit auch nur nahe gekommen war, aber das spielte auch keine Rolle. Was zählte war, daß es ihm gelungen war, Ennart weh zu tun, ihm einen wenn auch noch so kleinen Teil des Leids zurückzuzahlen, das er und seine Rassegenossen ihm zugefügt hatten.
»Und die Quorrl?« fuhr er fort. »Was ist mit ihnen? Was ist mit Titch und seinen Brüdern? Sie sind eure Nachkommen! Ihr vernichtet auch sie!«
»Das sind sie nicht«, sagte Ennart traurig. »Sie sind das, wofür ihr sie haltet. Tiere.« Er machte eine müde Geste auf die Tür, durch die Titch verschwunden war. »Sie waren unsere Antwort auf die Sternengeborenen. Kreaturen, die geschaffen wurden, um zu kämpfen. Nicht mehr.« Er lachte bitter, als er Skars Erstaunen bemerkte. »Wir haben unseren Schwertern das Laufen beigebracht, das ist alles.«
»Du willst damit sagen, sie wurden ... erschaffen?«
Ennart nickte. »Ja. Aber sie haben versagt. Nur wenige überlebten, und sie flohen in die Wälder im Norden. Die Quorrl sind ihre Nachkommen.«
»Das ist nicht wahr!« widersprach Skar. »Titch ist...«
»Titch«, unterbrach ihn Ennart, »ist nicht irgendein Quorrl. Er ist... etwas Besonderes. So wie sein Vater.«
»Ein besonders intelligentes Tier, wie?«
Ennart ignorierte den bitteren Hohn in Skars Stimme. »Wenn du so willst, ja. Vielleicht sind Männer wie er die Zukunft seines Volkes. Auch an den Quorrl ist die Zeit nicht spurlos vorübergegangen.« Er atmete tief und hörbar ein, starrte einen Moment ins Leere und machte dann eine abgehackte, bestimmende Handbewegung.
»Genug jetzt. Wir werden noch viel Zeit miteinander verbringen, aber ich wollte, daß du die Wahrheit kennst, ehe du dich entscheidest.«
»Wozu? Ob ich gegen euch kämpfe oder mit euch? Du bist verrückt, alter Mann.«
»Ob du als Gefangener oder als Gast bei uns bleibst«, sagte Ennart ruhig. »Denn nur diese Wahl bleibt dir. Dieser Raum hier wird dein neues Zuhause sein, Skar. Für wenige Wochen, bis alles vorüber ist, oder für die Ewigkeit. Die Wahl liegt bei dir.«
»Warum tötet ihr mich nicht einfach?« fragte Skar.
»Warum sollten wir?« Ennart lächelte verzeihend. Er hatte sich jetzt wieder vollkommen unter Kontrolle. Vor Skar stand wieder das sanfte, beinahe gottgleiche Wesen, als das er den Ssirhaa das erste Mal gesehen hatte. Und trotzdem wußte er jetzt, daß dieser Eindruck falsch war, eine Maske, hinter der sich nichts anderes als ein böser alter Mann verbarg. Skar wußte plötzlich mit unerschütterlicher Sicherheit, daß Ennart wahnsinnig war. Er war kein Gott, sondern nur ein alter Mann, der von vergangener Größe träumte und einfach nicht wahrhaben wollte, daß er so wenig in diese Welt gehörte wie Skar. Vielleicht war alles, was er erzählt hatte, wahr, vielleicht alles erlogen; es spielte keine Rolle. Wichtig war, daß Ennart dabei war, die ganze Welt in Brand zu setzen. Und daß er über die Macht verfügte, es auch zu tun.
»Du hast deine Aufgabe erfüllt«, fuhr Ennart fort, als Skar keine Anstalten machte, auf seine Frage zu antworten. »Es wäre sinnlos, dich zu töten.«
»Wenn ich die Sternenbestie erwecken konnte«, sagte Skar zornig, »dann kann ich sie auch wieder vernichten.«
»Kaum.« Ennart lachte leise. »Jetzt überschätzt du dich, Satai. Du hast das Siegel gebrochen, aber Zerstören ist immer leicht. Wir brauchten Hunderte von Jahren, um die Natur jenes Wesens zu ergründen - wie willst du es in den wenigen Wochen schaffen, die dir noch bleiben? Dir fehlt das Wissen, das mit denen unterging, die dich erschufen. Und selbst wenn ...« Er machte eine bedauernde Geste auf Skars linken Arm. »Du kannst diesen Turm nicht verlassen.«
Skars Blick folgte Ennarts Bewegung. Der Ssirhaa hatte auf das silberne Band gedeutet, das sich um sein linkes Handgelenk spannte. »Was ist das?«
»Etwas, das dein Leben rettet, es aber auch zerstören kann«, antwortete Ennart geheimnisvoll. »Titch hat dir die Geschichte des Sternenfeuers erzählt?« Skar nickte, und Ennart fuhr fort: »Sie ist wahr. Der Staub, den du in der Stadt der Errish eingeatmet hast, ist tödlich. Wir können dich heilen, und wir werden es tun, aber es wird lange dauern. Monate, wenn nicht Jahre. Bis es soweit ist, schützt dich dieser Reifen.« In seiner Stimme schwang hörbarer Stolz mit, während Skar den Arm hob und das harmlos aussehende Band aus metallenem Gewebe näher betrachtete. »Er reinigt dein Blut«, fuhr Ennart fort, »und neutralisiert das Gift, so lange du ihn trägst. Aber er kann dich auch töten.«
»Wenn du es willst«, vermutete Skar.
»Nicht, so lange du nicht versuchst, den Turm zu verlassen. Tätest du es, so würde sich seine Wirkung ins Gegenteil verkehren, und du stirbst binnen weniger Stunden.« Er breitete die Arme aus. »Du siehst, es besteht kein Grund für mich, dich zu töten. Nicht, solange du hier bist. Und später wird es keinen Grund mehr für dich geben, uns zu bekämpfen.«
Er stand auf und wandte sich zur Tür, blieb aber noch einmal stehen, ehe er das Zimmer verließ. »Willst du das Mädchen sehen?«
Kiina? Natürlich wollte er sie sehen. Er hatte sich nach nichts so sehr gesehnt wie danach, Kiina noch einmal wiederzusehen, in den Momenten, in denen er geglaubt hatte, sterben zu müssen. Trotzdem zögerte er.
»Wenn sie ... wenn sie wieder sie selbst ist«, sagte er. »Sonst nicht. Ich habe keine Lust, mit einer Puppe zu sprechen.«
»Dann wird Titch dich zu ihr bringen«, sagte Ennart. »Folge mir.«
3.
Kiinas Quartier lag auf dem gleichen Korridor wie das Skars, aber an seinem entgegengesetzten Ende, und zwischen ihm und Skars Zimmer befanden sich nicht weniger als drei massive Wände aus Metall, die zwar lautlos auseinanderglitten, wenn Ennart sich ihnen näherte, in Skar aber jeden Gedanken an einen gewaltsamen Ausbruchsversuch zunichte machten. Sie waren weiter allein. Vorhin, als er aus dem Fenster geblickt hatte, hatte er gesehen, daß der Turm vor Leben schier überquoll; auf dem rechteckigen Hof bewegten sich Hunderte von Menschen und Quorrl und Tieren. Aber hier oben herrschte eine gespenstische Stille. Es verwunderte ihn ein wenig, daß ein Mann wie Ennart keine Leibwache hatte, bis er sich ins Gedächtnis zurückrief, daß der Ssirhaa nicht nur mächtig, sondern auch ungeheuer stark war. Und augenscheinlich so gut wie unverletzlich. Die Wunde, die Skar selbst ihm am vergangenen Abend beigebracht hatte, war nicht nur geheilt, sondern so spurlos verschwunden, als hätte es sie niemals gegeben.