Skar spürte, daß das Gespräch sich im Kreis drehte. Kiina war einfach nur müde und krank, und er selbst kaum in der Verfassung, mit ihr zu diskutieren. Ganz davon abgesehen, daß er sich nicht einmal über seine eigenen Gefühle im klaren war. Vielleicht hatte Titch recht, und sie sollten die Zeit nutzen, um ein wenig zu schlafen. Wenn sie flohen und - was nicht auszuschließen war - verfolgt würden, würden sie all ihre Kraft brauchen.
»Leg dich wieder hin«, sagte er. »Ruh dich aus. Ich werde Wache halten.«
Eine Stunde vor Morgengrauen. Skar fuhr aus dem Sessel hoch, in dem er eingeschlafen war. Er brauchte ein paar Sekunden, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er erinnerte sich an einen krausen Traum ohne Handlung, in dem er halb wahnsinnig vor Angst gewesen war, ohne sich darauf zu besinnen, was ihm solche Furcht eingejagt hatte. Und der Geschmack von Blut. Automatisch hob er die Hand und betastete seine Lippen. Der Geschmack war immer noch da, und er fühlte klebrige warme Feuchtigkeit an den Fingerspitzen. Skar konnte selbst nicht sagen warum, aber er vermied es krampfhaft, seine Finger anzusehen, als er die Hand wieder senkte.
»Seid ihr soweit?« fragte Titch, als Skar seine Benommenheit endlich überwunden hatte und ihn fragend anblickte.
Skar nickte, trat an das gewaltige Bett heran, auf dem Kiinas schlafende Gestalt sonderbar verloren wirkte, und rüttelte sanft an ihrer Schulter. Sie erwachte sofort, aber wie Skar schien auch sie Mühe zu haben, den Schlaf ganz abzuschütteln.
»Was ist los?« murmelte sie. »Wo sind wir?«
Skar deutete auf Titch. »Wir müssen weg. Komm.«
Das Mädchen stand auf und bückte sich nach seinem Umhang, aber Titch hielt sie mit einem raschen Kopfschütteln zurück. Skar sah erst jetzt, daß er ein eng zusammengerolltes Bündel unter dem linken Arm trug.
»Zieht das hier an«, sagte er, während er es auf dem Boden ausrollte und zwei schwere, aus grobem schwarzem Stoff gewobene Mäntel zutage förderte. Skar nahm eines der Kleidungsstücke auf und streifte es über, ohne viele Fragen zu stellen. Der Stoff scheuerte auf der Haut und war schwer wie Stein, und obwohl der Mantel sichtlich für einen kleingewachsenen Quorrl gefertigt war, kam er sich darin vor wie ein Kind, das in den Mantel eines Erwachsenen geschlüpft war. Als er versuchte, die Kapuze überzustreifen, fiel sie über seine Stirn und nahm ihm jede Sicht. Titch grinste schadenfroh, als Skar sich wieder befreit hatte.
»Damit kommen wir nie durch«, sagte Kiina, die die gleichen Probleme wie Skar hatte; eigentlich sogar mehr, denn sie war ein gutes Stück kleiner als er.
»Das müßt ihr auch nicht«, erwiderte Titch. »Aber einem flüchtigen Blick halten sie stand. Mehr ist nicht nötig. Cron hat Pferde für uns bereitstellen lassen.«
»Und wenn jemand ein wenig aufmerksamer hinsieht?« fragte Skar.
Titch schüttelte entschieden den Kopf. »Es ist dunkel. Die meisten Krieger schlafen. Niemand wird Notiz von euch nehmen. Und sobald wir erst einmal in den Wäldern sind, sieht uns sowieso niemand.« Er öffnete die Tür, lugte vorsichtig hinaus und hob die Hand. »Alles ruhig. Kommt.«
Sie verließen das Haus auf demselben Weg, auf dem sie es betreten hatten.
Das große, festungsähnliche Gebäude war vollkommen ruhig, und auch über dem Hof hatte sich eine fast unheimliche Stille ausgebreitet, in der das dumpfe Dröhnen aus dem Norden wie das Grollen eines näherkommenden Gewitters klang; halblaut, dumpf und ungemein düster, ein Dröhnen, als bebe die Erde. Skar und Kiina blieben im Schatten der Tür stehen, während Titch ein paar Schritte vorausging und sich sichernd nach allen Seiten umsah. Erst als er ihnen ein Zeichen gab, folgten sie ihm.
Skar fühlte sich nicht gut. Er versuchte sich einzureden, daß dies hier ein ganz normaler Kampf war, eine Situation, wie er sie in der einen oder anderen Form schon unzählige Male erlebt hatte, aber es gelang ihm nicht. Etwas war anders. Sie waren auf der Flucht, und es war auch nicht das erste Mal, daß er dies tat, aber etwas daran war... falsch.
Er machte nur ein paar Schritte, ehe er wieder stehenblieb; halb im Schutze eines Zeltes, aber doch so, daß er aus mindestens zwei Richtungen deutlich zu sehen war. Unsicher sah er sich um. Das Gefühl, einen Fehler zu machen, wurde stärker.
»Was ist los?« fragte Titch unwillig. »Wartest du auf eine Ehrengarde?«
Skar ignorierte ihn. Er wußte, daß da noch etwas war; etwas, das er vergessen hatte. Titch. Titch hatte etwas gesagt, gesagt oder getan, was wichtig war. Aber er wußte einfach nicht, was. Er...
Sein Blick streifte den wuchtigen Steinbau, in dessen Keller sich das Verlies befand. »Die Gefangenen«, sagte er. »Was ist mit ihnen?«
Titch runzelte übertrieben die Stirn. »Was soll damit sein?« fragte er. »Willst du sie mitnehmen?«
»Du hast gesagt, es wäre sinnlos, etwas für sie tun zu wollen«, beharrte Skar. »Was hast du damit gemeint?«
»Was, zum Teufel, soll ich damit gemeint haben?« fauchte Titch. »Sie sterben sowieso, ob jetzt oder in ein paar Tagen. Du kannst nichts für sie tun. Sie waren tot, im gleichen Moment, in dem sie die Grenzen dieses Landes überschritten, das weißt du verdammt nochmal so gut wie ich!« Er machte eine zornige Handbewegung, als Skar erneut widersprechen wollte. »Vielleicht diskutieren wir später darüber, wenn es Euer Gnaden genehm ist«, sagt er bissig. »Oder wenigstens an einem anderen Ort. Wenn sie uns hier draußen finden, dann bekommst du schneller heraus, was ich gemeint habe, als dir lieb sein dürfte. Und wir auch!«
»Er hat recht, Skar«, sagte Kiina. »Wir müssen weg!«
Unter allen anderen Umständen hätte Skar ihr zugestimmt und wäre weitergegangen. Aber etwas war anders. Titch verschwieg ihm etwas, das spürte er. Und es war wichtig, daß er es herausbekam.
»Ich gehe keinen Schritt mehr, ehe du nicht geantwortet hast«, sagte er stur; und in einem Ton, der klar machte, daß er diese Worte bitter ernst meinte.
Titch resignierte. »Also gut«, seufzte er. »Der Bestimmer ist nicht nur gekommen, um die Eier abzuholen. Er hat... Befehle aus Ninga mitgebracht.«
»Befehle, die die Gefangenen betreffen?« vermutete Skar. »Ja.« Titch nickte. »Sie sollen... getötet werden. Und nicht nur hier. Der Befehl gilt überall. Alle menschlichen Gefangenen werden hingerichtet.«
Deinetwegen. Titch sprach dieses letzte Wort nicht aus, aber Skar hörte es so deutlich, als hätte er es getan. Es gab keine andere Erklärung.
Plötzlich erinnerte er sich wieder an die Blicke, mit denen der Krieger am Morgen die Gefangenen gemustert hatte. Die Quorrl wußten, daß sie hier waren. Aber sie wußten nicht, wer sie waren. Also töteten sie alle Menschen, deren sie habhaft werden konnten.
»Das ist -«
»Was immer es ist, es ist nun einmal so«, unterbrach ihn Titch. »Du kannst nichts dagegen tun. Sie wären sowieso gestorben. Vielleicht ist es so barmherziger.«
Natürlich sagte Titch dies nur, um ihn zu trösten; vielleicht ein wenig aufzumuntern. Wenn die Worte in Skars Ohren nicht zynisch klangen, so lag dies ganz allein an ihm, nicht an dem, was Titch sagte, oder wie. Und trotzdem mußte er sich plötzlich beherrschen, um nicht die Faust zu ballen und sie dem Quorrl ins Gesicht zu schlagen.
Vielleicht hätte er es sogar getan, aber aus dem Zelt, hinter dem sie standen, drang plötzlich ein unwilliges Knurren, gefolgt von dem Geräusch, mit dem sich ein schwerer Körper auf einem Lager herumdreht. Für Sekunden erstarrten sie alle zur Reglosigkeit und warteten auf Schritte oder einen alarmierenden Schrei. Keines von beiden kam: aber Skar begriff, daß Titch zumindest in einer Hinsicht recht hatte: dies war wirklich nicht der richtige Ort, um zu diskutieren.
Sie warteten, bis in dem Zelt wieder Ruhe eingekehrt war, und gingen weiter. Skar konnte nicht sehr viel sehen. Wie Kiina hatte er die Kapuze des viel zu großen Mantels tief in die Stirn gezogen und hielt den Kopf gesenkt, so daß er nur den einen schmalen Bereich unmittelbar vor seinen Füßen einsehen konnte. Aber Titch führte sie zuverlässig.