Melten war ein schlanker Mann mit einem dichten Haarschopf. Er kleidete sich wie ein andoranischer Waldläufer, trug ein einfaches Hemd und einen Umhang, sprach aber wie ein Grenzländer. In seinem Beutel trug er einen Satz farbiger Kugeln, mit denen er manchmal für die Mitglieder der Bande jonglierte. In einem anderen Leben musste er ein Gaukler gewesen sein.
Eigentlich passte er nicht in die Bande, andererseits galt das auf die eine oder andere Weise für sie alle.
»Ich weiß nicht, wie es das Gift dämpft«, sagte er. »Aber das tut es. Es handelt sich ja nicht um normales Gift. Man kann es nicht aus der Wunde saugen.«
Talmanes drückte die Hand auf die Seite. Der brennende Schmerz fühlte sich an, als arbeite sich ein Dornenstrauch langsam unter der Haut nach oben und risse mit jeder Bewegung am Fleisch. Er konnte fühlen, wie das Gift durch seinen Körper zirkulierte. Beim Licht, tat das weh.
In der Nähe kämpften sich die Männer der Bande durch Caemlyn auf den Palast zu. Sie waren durch das Südtor eingedrungen und hatten es den Söldnergruppen unter Sandips Befehl überlassen, das Westtor zu halten.
Wenn es irgendwo in der Stadt noch einen menschlichen Widerstand gab, dann beim Palast. Unglücklicherweise zogen Fäuste Trollocs durch das Gebiet zwischen Talmanes’ Position und dem Königinnenpalast. Ständig stießen sie auf die Ungeheuer und wurden in Kämpfe verwickelt.
Talmanes hatte keine Möglichkeit, herauszufinden, ob es dort tatsächlich noch Widerstand gab; dazu musste er sich dorthin begeben. Das bedeutete, dass er seine Männer zum Palast führen musste, sich den ganzen Weg freikämpfen und das Risiko eingehen musste, von den umherstreifenden Tiermenschen eingekreist zu werden. Aber dafür gab es keine Alternative. Er musste herausfinden, was von der Verteidigung des Palastes noch übrig war – ob überhaupt noch etwas übrig war. Von dort konnte er wieder einen Ausfall in die Stadt anführen und versuchen, an die Drachen zu kommen.
Die Luft roch nach Rauch und Blut; während einer kurzen Kampfpause hatten sie tote Trollocs an der rechten Straßenseite aufgeschichtet, um Platz zu schaffen.
Auch in diesem Stadtteil gab es Flüchtlinge, auch wenn es kein großer Strom war. Eher ein Rinnsal, das aus der Dunkelheit tröpfelte, während Talmanes und die Bande Teile der Durchgangsstraße zum Palast freikämpften. Diese Flüchtlinge verlangten nicht, dass die Bande ihren Besitz beschützte oder ihre Häuser rettete; menschlichen Widerstand zu finden ließ sie vor Freude schluchzen. Madwin hatte den Befehl, sie durch den Sicherheitskorridor, den die Bande freigehackt hatte, in die Freiheit zu schicken.
Talmanes wandte sich dem Palast oben auf dem Hügel zu, aber in der Nacht waren seine Umrisse kaum auszumachen. Obwohl der größte Teil der Stadt brannte, stand der Palast nicht in Flammen; in der rauchigen Nacht erhoben sich seine weißen Mauern Phantomen gleich. Kein Feuer. Das musste doch ein Hinweis auf Widerstand sein, oder nicht? Hätten ihn die Trollocs nicht als Erstes angegriffen?
Er hatte Kundschafter die Straße hinauf ausgeschickt, während er sich und seinen Männern eine kurze Atempause gönnte.
Melten band die Kräuterbinde fest.
»Danke, Melten.« Talmanes nickte dem Mann zu. »Ich kann schon fühlen, wie die Kräuter wirken. Ihr sagtet, sie sind ein Teil des Schmerzmittels. Was ist der andere Teil?«
Melten hakte eine Metallflasche vom Gürtel und gab sie ihm. »Unverfälschter shienarischer Branntwein.«
»Im Kampf zu trinken ist keine gute Idee, Mann.«
»Nehmt es«, sagte Melten leise. »Nehmt die Flasche und trinkt ordentlich, mein Lord. Oder Ihr steht beim nächsten Glockenschlag nicht mehr auf den Beinen.«
Talmanes zögerte, dann nahm er die Flasche und trank einen großen Schluck. Es brannte wie die Wunde. Er hustete, dann steckte er die Flasche ein. »Ich glaube, Ihr habt Eure Flaschen verwechselt. Das da habt Ihr in einem Färberbottich gefunden.«
Melten grinste. »Und da heißt es, Ihr hättet keinen Sinn für Humor, Lord Talmanes.«
»Habe ich auch nicht. Bleibt mit Eurem Schwert in der Nähe.«
Melten nickte. »Schattenschlächter«, flüsterte er.
»Was ist das?«
»Ein Titel aus den Grenzlanden. Ihr habt einen Blassen getötet. Schattenschlächter.«
»In dem steckten da aber bereits siebzehn Pfeile.«
»Das ist egal.« Melten schlug ihm auf die Schulter. »Schattenschlächter. Wenn Ihr die Schmerzen nicht länger ertragt, ballt beide Fäuste und hebt sie in meine Richtung. Ich kümmere mich dann um den Rest.«
Talmanes stand auf und konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Sie verstanden sich. Die Grenzländer in der Bande waren sich da alle einig; von einer Thakan’dar-Klinge geschlagene Wunden waren unberechenbar. Einige entzündeten sich schnell, andere bewirkten langes Siechtum. Aber wenn die Wunde wie bei Talmanes schwarz wurde … das war das Schlimmste. Er konnte nur gerettet werden, wenn sie in den nächsten paar Stunden eine Aes Sedai fanden.
»Es ist gut, dass ich keinen Sinn für Humor habe, müsst Ihr wissen«, murmelte er. »Andernfalls würde ich glauben, dass mir das Muster einen Streich spielt. Dennel! Habt Ihr einen Stadtplan?« Beim Licht, was vermisste er doch Vanin.
»Mein Lord«, sagte Dennel und eilte mit einer Fackel und einem flüchtig hingekritzelten Stadtplan über die dunkle Straße. Er war einer der Drachenhauptmänner der Bande. »Ich glaube, ich habe einen schnelleren Weg zu dem Ort gefunden, an dem Aludra die Drachen untergestellt hat.«
»Zuerst kämpfen wir uns zum Palast durch«, erwiderte Talmanes.
»Mein Lord.« Dennels Worte kamen nun ganz leise über seine Lippen. Er fummelte an seiner Uniform herum, als würde sie nicht richtig sitzen. »Falls der Schatten diese Drachen erreicht …«
»Ich bin mir der Gefahren durchaus bewusst, Dennel, danke. Wie schnell könnt Ihr diese Dinger bewegen, falls wir sie erreichen? Ich sorge mich, dass wir uns verzetteln, und diese Stadt brennt schneller als ein ölgetränkter Liebesbrief an die Geliebte eines Hohen Herrn. Ich will die Waffen holen und die Stadt dann so schnell wie möglich verlassen.«
»Mit einem oder zwei Schüssen kann ich eine Feindstellung dem Erdboden gleichmachen, mein Lord, aber diese Drachen bewegen sich alles andere als schnell. Sie sind auf Karren montiert, was schon hilfreich ist, aber sie werden nicht schneller als … sagen wir ein Zug Proviantwagen sein. Und sie brauchen ihre Zeit, bis man sie richtig aufgebaut hat, um schießen zu können.«
»Dann gehen wir weiter zum Palast«, erwiderte Talmanes.
»Aber …«
»Mit etwas Glück könnten wir im Palast Frauen finden, die mit der Einen Macht ein Wegetor direkt zu Aludras Lagerhaus erschaffen. Davon abgesehen hätten wir Freunde im Rücken, falls die Palastgarde noch kämpft. Wir holen diese Drachen, aber wir tun es mit Klugheit.«
Er sah, dass Ladwin und Mar von hügelaufwärts herbeieilten. »Dort oben sind Trollocs!«, verkündete Mar. »Mindestens hundert von ihnen, auf der Straße.«
»Nehmt Aufstellung, Männer!«, rief Talmanes. »Wir kämpfen uns zum Palast durch!«
Im Schweißzelt kehrte tiefes Schweigen ein.
Aviendha hatte möglicherweise Unglauben über ihre Geschichte erwartet. Mit Sicherheit aber Fragen. Nicht diese quälende Stille.
Aber auch wenn das unerwartet kam, verstand sie es dennoch. Schließlich hatte sie genauso empfunden, nachdem sie in ihrer Vision erlebt hatte, wie die Aiel in der Zukunft langsam das Ji’e’toh verloren. Sie hatte das Sterben, die Entehrung und die Vernichtung ihres Volkes miterlebt. Zumindest hatte sie jetzt jemanden, mit dem sie diese Last teilen konnte.
Die erhitzten Steine im Kessel zischten leise. Jemand hätte mehr Wasser nachgießen müssen, aber keine der sechs Frauen im Zelt machte Anstalten dazu. Die anderen fünf waren alle Weise Frauen, die genau wie Aviendha nach der Art der Schweißzelte nackt dasaßen. Sorilea, Amys, Bair, Melaine und Kymer von den Tomanelle Aiel. Jede von ihnen starrte geradeaus; in diesem Moment war jede von ihnen ganz allein mit ihren Gedanken.