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Eine nach der anderen setzten sie sich wieder gerade auf, als hätten sie eine neue Last geschultert. Das tröstete Aviendha; nicht, dass sie erwartet hatte, diese Neuigkeit würde sie verzweifeln lassen. Trotzdem war es gut zu sehen, dass sie ihren Blick auf die Gefahr richteten, statt ihn abzuwenden.

»Der Sichtblender ist der Welt nun viel zu nahe gekommen«, sagte Melaine. »Das Muster ist irgendwie verbogen. Im Traum sehen wir noch immer zu viele Dinge, die vielleicht eintreten oder auch nicht, aber es gibt zu viele Möglichkeiten; wir können sie nicht länger voneinander unterscheiden. Den Traumgängerinnen ist das Schicksal unseres Volkes völlig unklar, genau wie das Schicksal des Car’a’carn, sobald er Sichtblender am Letzten Tag ins Auge gespuckt hat. Wir wissen nicht, ob Aviendha die Wahrheit sah.«

»Wir müssen das prüfen«, sagte Sorilea. Ihre Augen waren wie Steine. »Wir müssen es wissen. Erlebt von nun an jede Frau diese Vision statt der anderen, oder war das eine einzigartige Erfahrung?«

»Elenar von den Daryne«, sagte Amys. »Ihre Ausbildung ist so gut wie beendet. Sie wird Rhuidean als Nächste besuchen. Wir könnten Hayde und Shanni bitten, sie etwas zu ermutigen.«

Aviendha unterdrückte ein Schaudern. Sie wusste nur zu gut, wie »ermutigend« die Weisen Frauen sein konnten.

»Das wäre gut«, sagte Bair und beugte sich vor. »Vielleicht geschieht das ja immer, wenn jemand ein zweites Mal durch die Glassäulen tritt? Vielleicht ist es darum verboten.«

Niemand sah Aviendha an, aber sie spürte genau, dass die anderen über sie nachdachten. Was sie getan hatte, war verboten. Über das in Rhuidean Erlebte zu sprechen war ebenfalls ein Frevel.

Eine Zurechtweisung würde es nicht geben. Rhuidean hatte sie nicht umgebracht; so hatte sich das Rad eben gedreht. Bair starrte noch immer in die Ferne. Schweiß floss an Aviendhas Wangen und Brüsten herunter.

Ich vermisse Bäder nicht, dachte sie. Sie war keine verweichlichte Feuchtländerin. Trotzdem war ein Schweißzelt auf dieser Seite der Berge eigentlich nicht erforderlich. Die Nächte waren nicht bitterlich kalt, also fühlte sich die Hitze im Zelt bloß erdrückend und nicht erfrischend an. Und wenn es genügend Wasser zum Baden gab …

Nein. Entschlossen reckte sie das Kinn. »Darf ich sprechen?«

»Sei nicht albern, Mädchen«, sagte Melaine. Der Bauch der Frau war weit vorgewölbt, die Geburt stand kurz zuvor. »Du bist jetzt eine von uns. Du musst nicht um Erlaubnis bitten.«

Mädchen? Es würde noch dauern, bis sie sie wirklich als eine der Ihren betrachteten, aber sie gaben sich Mühe. Keiner befahl ihr, Tee zu machen oder Wasser auf die Steine zu gießen. Ohne Lehrling und Gai’shain in der Nähe wechselten sie sich mit diesen Aufgaben ab.

»Ich mache mir weniger Sorgen darüber, dass sich diese Vision wiederholen könnte«, sagte Aviendha, »sondern vielmehr über das, was ich sah. Wird es geschehen? Können wir es aufhalten?«

»Rhuidean zeigt zwei Arten von Visionen«, sagte Kymer. Sie war noch nicht so alt, vielleicht nicht ganz zehn Jahre älter als Aviendha, hatte dunkelrotes Haar und ein langes gebräuntes Gesicht. »Der erste Besuch zeigt das, was sein könnte, der zweite in den Säulen das, was sich zugetragen hat.«

»Diese dritte Vision könnte das eine wie das andere sein«, sagte Amys. »Die Säulen haben die Vergangenheit stets getreu wiedergegeben; warum sollten sie die Zukunft nicht mit der gleichen Genauigkeit zeigen?«

Aviendhas Herz setzte einen Schlag aus.

»Aber warum sollten die Säulen eine Verzweiflung zeigen, die man nicht ändern kann?«, meinte Bair leise. »Nein. Ich weigere mich, das zu glauben. Rhuidean hat uns immer das gezeigt, was wir sehen mussten. Um uns zu helfen und nicht, um uns zu vernichten. Auch diese Vision muss einen Sinn haben. Soll sie uns zu einer größeren Ehre anspornen?«

»Das spielt keine Rolle«, sagte Sorilea kurz angebunden.

»Aber …«, begann Aviendha.

»Das spielt keine Rolle«, wiederholte Sorilea. »Falls diese Vision nicht zu ändern ist, falls es unser Schicksal ist, diesen tiefen … Sturz … zu erleiden, von dem du erzählt hast, würde auch nur eine von uns aufhören, dagegen anzukämpfen, um ihn zu verhindern?«

Wieder kehrte Stille ein. Aviendha schüttelte den Kopf.

»Wir müssen damit umgehen, als könnte man es ändern«, sagte Sorilea. »Es ist besser, nicht über deine Frage zu grübeln, Aviendha. Wir müssen entscheiden, was wir tun sollen.«

Aviendha ertappte sich bei einem Nicken. »Ich … ja, ja, du hast recht, Weise Frau.«

»Aber was machen wir?«, fragte Kymer. »Was ändern wir? Im Augenblick muss die Letzte Schlacht gewonnen werden.«

»Beinahe wünschte ich, dass die Vision nicht zu ändern ist«, sagte Amys, »denn zumindest beweist sie, dass wir diesen Kampf gewinnen.«

»Sie beweist gar nichts«, erwiderte Sorilea. »Sichtblenders Sieg würde das Muster zerbrechen, darum kann keine Vision der Zukunft vertrauenswürdig sein. Selbst wenn es um Prophezeiungen weit in der Zukunft liegender Zeitalter geht, wenn Sichtblender diese Schlacht gewinnt, findet alles sein Ende.«

»Diese Vision, die ich hatte, hat mit dem zu tun, was Rand gerade plant«, sagte Aviendha.

Alle Blicke wandten sich ihr zu.

»Morgen«, sagte sie. »Wie ihr mir gesagt habt, bereitet er sich auf eine wichtige Enthüllung vor.«

»Der Car’a’carn hat eine … Schwäche … für dramatische Auftritte«, sagte Bair, aber ihre Worte klangen liebevoll. »Er ist wie ein Crockobur, der die ganze Nacht geschuftet hat, um ein Nest zu bauen, damit er allen am nächsten Morgen davon vorsingen kann.«

Es hatte Aviendha überrascht, die Zusammenkunft bei Merrilor zu entdecken; sie hatte sie nur gefunden, weil sie ihren Bund mit Rand al’Thor dazu benutzt hatte, seinen Aufenthaltsort zu bestimmen. Als sie hier eingetroffen war und die versammelten Streitkräfte der Feuchtländer gesehen hatte, hatte sie sich gefragt, ob das wohl schon ein Teil dessen war, was sie gesehen hatte. War diese Zusammenkunft der Beginn der Ereignisse, die sich in ihrer Vision zugetragen hatten?

»Ich fühle mich, als wüsste ich mehr, als ich sollte.« Es war beinahe, als würde sie mit sich selbst sprechen.

»Du hattest einen tiefen Einblick darein, was die Zukunft möglicherweise bringt«, meinte Kymer. »Das wird dich verändern, Aviendha.«

»Der morgige Tag ist der Schlüssel«, sagte Aviendha. »Sein Plan.«

»Deinen Worten zufolge hat es den Anschein, als wollte er die Aiel ignorieren, sein eigenes Volk«, sagte Kymer. »Warum sollte er jedem anderen eine Gunst erweisen, sie aber ausgerechnet denen verweigern, die sie am meisten verdienen? Will er uns beleidigen?«

»Ich glaube nicht, dass das der Grund ist«, erwiderte Aviendha. »Ich glaube, er will den Versammelten Forderungen stellen und keine Gunst erweisen.«

»Er erwähnte einen Preis«, sagte Bair. »Einen Preis, den die anderen zahlen sollen. Niemand konnte ihm das Geheimnis dieses Preises entlocken.«

»Am frühen Abend ist er durch ein Wegetor nach Tear gegangen und hat etwas geholt«, sagte Melaine. »Die Töchter berichteten es – er hält sich jetzt an seinen Eid, sie mitzunehmen. Als wir uns nach dem Preis erkundigten, sagte er, es sei etwas, worüber sich die Aiel keine Sorgen zu machen bräuchten.«

Aviendha runzelte die Stirn. »Er lässt sich von Männern für das bezahlen, von dem wir alle wissen, dass er es tun muss? Vielleicht hat er einfach nur zu viel Zeit mit den Leuten vom Meervolk verbracht.«

»Nein, das ist schon richtig so«, meinte Amys. »Diese Leute verlangen viel vom Car’a’carn. Er hat das Recht, im Gegenzug etwas von ihnen zu verlangen. Sie sind weich; vielleicht will er sie ja stärker machen.«

»Und darum lässt er uns außen vor, weil er weiß, dass wir bereits stark sind«, sagte Bair leise.

Schweigen setzte ein. Mit besorgter Miene löffelte Amys Wasser auf die erhitzten Steine im Kessel. Zischend stieg Dampf in die Höhe.