Moghedien trat auf eine Plattform aus Stein, die mitten auf dem offenen Meer trieb. Gläsern und blau kräuselte sich das Wasser in der schwachen Brise, aber Wellen gab es keine. Es war auch kein Land in Sicht.
Moridin stand an der Seite der Plattform, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Vor ihm brannte das Meer. Das Feuer erzeugte keinen Rauch, aber es war heiß, und das Wasser in der Nähe zischte und kochte. Ein Steinfußboden in der Mitte eines grenzenlosen Meeres. Brennendes Wasser. Moridin hatte schon immer seinen Spaß daran gehabt, in seinen Traumsplittern unmögliche Dinge zu erschaffen.
»Setzt Euch«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Sie gehorchte und wählte einen der vier Stühle, die unversehens in der Plattformmitte standen. Der Himmel war tiefblau und wolkenlos, und die Sonne hatte etwa drei Viertel ihres Weges zum Zenit zurückgelegt. Wie lange war es schon her, dass sie in Tel’aran’rhiod die Sonne gesehen hatte? In letzter Zeit hatte der allgegenwärtige schwarze Sturm den Himmel verdeckt. Andererseits war das hier nicht ganz das Tel’aran’rhiod. Es war auch nicht Moridins Traum, sondern eine Vermengung von beidem. Wie ein kurzfristiger Unterstand an der Seite der Traumwelt. Eine Blase miteinander verschmolzener Realitäten.
Moghedien trug ein schwarz-goldenes Gewand, der Spitzenbesatz an den Ärmeln erinnerte vage an ein Spinnennetz. Aber nur vage. Man tat gut daran, nicht jeden Gedanken weiterzuverfolgen.
Als sie sich setzte, versuchte sie Kontrolle und Selbstvertrauen auszustrahlen. Einst war ihr das nicht schwergefallen. Heute war allein der Versuch, auch nur eines davon zustande zu bringen, wie der Versuch, Flocken von Algode aus der Luft zu pflücken, nur damit sie ihr wieder aus der Hand glitten. Sie biss die Zähne zusammen und verspürte Wut. Sie war eine der Auserwählten. Sie hatte Könige zum Weinen gebracht und Heere erzittern lassen. Ganze Generationen von Müttern hatten ihren Kindern mit ihrem Namen Angst gemacht. Und jetzt …
Sie berührte ihren Hals, den dort ruhenden Anhänger. Er war noch immer sicher. Das wusste sie, aber die Berührung brachte ihr Sicherheit.
»Gewöhnt Euch nicht zu sehr daran«, sagte Moridin. Ein Windzug strich über ihn hinweg und kräuselte die makellose Meeresoberfläche. Der Wind trug leise Schreie heran. »Noch hat man Euch nicht alles vergeben, Moghedien. Das ist eine Bewährung. Vielleicht gebe ich die Geistfalle bei Eurem nächsten Versagen Demandred.«
Sie schnaubte. »Er würde sie gelangweilt zur Seite werfen. Demandred interessiert sich nur für eine Sache. Al’Thor. Jeder, der ihn nicht zu diesem Ziel führt, ist für ihn bedeutungslos.«
»Ihr unterschätzt ihn«, sagte Moridin leise. »Der Große Herr ist mit Demandred zufrieden. Sehr zufrieden sogar. Ihr hingegen …«
Moghedien sank in sich zusammen und erinnerte sich deutlich an ihre Qualen. Schmerzen, wie sie auf dieser Welt nur wenige je erlebt hatten. Schmerzen, wie sie ein Körper eigentlich nicht aushalten sollte. Sie umklammerte das Cour’souvra und umarmte Saidar. Das brachte eine gewisse Erleichterung.
Zuvor hatte es quälende Pein mit sich gebracht, im selben Raum wie das Cour’souvra die Macht zu lenken. Aber da jetzt sie die Geistfalle trug und nicht Moridin, war das nicht länger der Fall. Nicht nur ein Anhänger, dachte sie und umfasste ihn fester. Meine Seele. Sie hätte nie gedacht, dass ausgerechnet sie von allen Menschen dem jemals ausgesetzt werden würde. War sie nicht die Spinne, die in allem große Vorsicht walten ließ?
Sie hob die andere Hand und umklammerte die, die bereits die Geistfalle hielt. Was, wenn sie sich von der Kette löste, wenn jemand sie ihr wegnahm? Sie würde sie nicht verlieren. Sie konnte sie nicht verlieren.
Das ist also aus mir geworden? Übelkeit stieg in ihr empor. Ich muss mich erholen. Irgendwie. Sie zwang sich, die Geistfalle loszulassen.
Die Letzte Schlacht war da; Horden von Trollocs strömten bereits in die Länder des Südens. Das war ein neuer Schattenkrieg, aber allein sie und die anderen Auserwählten kannten die wahren Geheimnisse der Einen Macht. Die, die man sie nicht gezwungen hatte, diesen schrecklichen Frauen zu offenbaren …
Nein, nicht daran denken. Die Qualen, das Leid, das Versagen.
In diesem Krieg standen sie keinen hundert Gefährten gegenüber, keinen Aes Sedai, die seit Jahrhunderten ihre Fertigkeiten pflegten. Sie würde sich beweisen, und die Fehler der Vergangenheit würden in Vergessenheit geraten.
Moridin starrte weiter auf die unmöglichen Flammen. Die einzigen Laute kamen von dem Feuer und dem in der Nähe brodelnden Wasser. Irgendwann würde er erklären, warum er sie herbefohlen hatte, nicht wahr? In letzter Zeit hatte er sich zusehends seltsam verhalten. Vielleicht kehrte ja sein Wahnsinn zurück. Einst hätte der Mann namens Moridin – oder Ishamael oder Elan Morin Tedronai – das Cour’souvra einer seiner Rivalen mit Begeisterung behalten. Er hätte sich Strafen einfallen lassen und sich an ihren Qualen ergötzt.
Anfangs war es auch so gewesen, aber dann … hatte er das Interesse verloren. Er verbrachte immer mehr Zeit allein damit, in Flammen zu starren und zu grübeln. Die Strafen, die er ihr und Cyndane auferlegt hatte, waren fast schon wie Routine erschienen.
Diese neue Haltung machte ihn ihrer Meinung nach noch viel gefährlicher.
Neben der Plattform durchschnitt ein Wegetor die Luft. »Müssen wir das wirklich jeden zweiten Tag tun, Moridin?«, fragte Demandred und betrat die Welt der Träume. Gut aussehend und hochgewachsen, hatte er schwarzes Haar und eine große Nase. Er warf Moghedien einen flüchtigen Blick zu und bemerkte die Geistfalle, bevor er weitersprach. »Ich habe wichtige Dinge zu erledigen, und Ihr unterbrecht sie.«
»Es gibt Leute, die Ihr kennenlernen müsst, Demandred«, sagte Moridin leise. »Falls Euch der Große Herr nicht zum Nae’blis ernannte, ohne mich darüber in Kenntnis zu setzen, werdet Ihr tun, was man Euch sagt. Eure Spielzeuge können warten.«
Demandreds Miene verfinsterte sich, aber er sparte sich weitere Einwände. Er schloss das Wegetor, dann drehte er sich um und schaute ins Wasser. Und runzelte die Stirn. Was war in diesem Wasser? Moghedien hatte nicht darauf geachtet. Jetzt kam sie sich dumm vor, dass sie darauf verzichtet hatte. Was war nur aus ihrer Vorsicht geworden?
Demandred trat zu einem der Stühle neben ihr, setzte sich aber nicht. Er stand einfach nur da und betrachtete Moridin nachdenklich von hinten. Womit war Demandred beschäftigt? Während der Zeit, in der sie an die Geistfalle gefesselt gewesen war, hatte sie Moridins Befehle befolgt, aber sie hatte nichts über Demandred herausfinden können.
Der Gedanke an die Wochen unter seiner Kontrolle ließ sie erneut frösteln. Ich werde meine Rache bekommen.
»Ihr habt Moghedien freigelassen«, sagte Demandred. »Was ist mit dieser … Cyndane?«
»Sie geht Euch nichts an«, erwiderte Moridin.
Moghedien war keineswegs entgangen, dass er noch immer Cyndanes Geistfalle trug. Cyndane. In der Alten Sprache bedeutete das »letzte Chance«, aber das Geheimnis der wahren Natur dieser Frau hatte Moghedien entschlüsseln können. Moridin hatte Lanfear höchstpersönlich aus Sindhol gerettet und sie von den Kreaturen befreit, die sich an ihrer Fähigkeit zum Machtlenken labten.
Um sie zu retten und natürlich auch um sie zu bestrafen, hatte Moridin sie getötet. Das hatte es dem Großen Herrn ermöglicht, ihre Seele wieder einzufangen und in einen neuen Körper zu pflanzen. Brutal, aber sehr effektiv. Genau die Art von Lösung, die der Große Herr bevorzugte.