Moridin konzentrierte sich auf seine Flammen, und Demandred auf ihn, also nutzte Moghedien die Gelegenheit, sich von ihrem Stuhl zu erheben und an den Rand der schwebenden Steinplattform zu treten. Das Wasser war völlig klar. Sie konnte deutlich Menschen ausmachen. Ihre Beine waren an etwas in der Tiefe angekettet, die Arme auf den Rücken gefesselt. So trieben sie dort. Wie Seetang.
Es waren Tausende. Jeder von ihnen starrte mit weit aufgerissenen Augen entsetzt gen Himmel. Sie waren in einem ständigen Zustand des Ertrinkens gefangen. Nicht tot, sterben durften sie nicht, aber sie schnappten ständig nach Luft und fanden bloß Wasser. Während Moghedien zuschaute, griff etwas Dunkles aus der Tiefe zu und riss einen von ihnen nach unten. Blut erblühte wie eine sich entfaltende Blume; das ließ die anderen nur noch energischer zappeln.
Moghedien lächelte. Es tat gut, auch mal jemand anders außer ihr leiden zu sehen. Vielleicht handelte es sich bei ihnen ja bloß um Phantasiegebilde, aber durchaus möglich, dass das diejenigen waren, die den Großen Herrn enttäuscht hatten.
An der Seite der Plattform öffnete sich ein weiteres Wegetor, und eine fremde Frau trat hindurch. Die Kreatur hatte schrecklich abstoßende Züge, eine gekrümmte Knollennase und wässrige Augen, die nicht auf gleicher Höhe lagen. Ihr Kleid aus gelber Seide war durchaus kostbar, unterstrich aber bloß die Hässlichkeit dieser Frau.
Moghedien verzog hämisch das Gesicht und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Warum ließ Moridin eine Fremde an einem ihrer Treffen teilnehmen? Diese Frau konnte die Macht lenken; sie konnte nur eine dieser nutzlosen Frauen sein, die sich in diesem Zeitalter als Aes Sedai bezeichneten.
Zugegeben, mächtig ist sie ja, dachte Moghedien, während sie Platz nahm. Wie hatte sie nur so ein Talent unter den Aes Sedai übersehen können? Ihre Späher hatten dieses elende Leichtgewicht Nynaeve fast sofort gefunden, aber diese hässliche Vettel hatten sie übersehen?
»Die da sollen wir kennenlernen?«, fragte Demandred und verzog angewidert die Lippen.
»Nein«, sagte Moridin gedankenverloren. »Ihr kennt Hessalam schon.«
Hessalam? In der Alten Sprache bedeutete das »keine Vergebung«. Die Frau erwiderte stolz Moghediens Blick, und ihre Haltung hatte etwas durchaus Vertrautes.
»Ich habe viel zu tun, Moridin«, sagte die Fremde. »Ich hoffe, es ist wirklich wichtig …«
Moghedien stockte der Atem. Dieser Tonfall …
»Nicht in diesem Ton«, unterbrach Moridin sie. Er sagte es leise, drehte sich noch immer nicht um. »Bei keinem von uns. Im Augenblick steht sogar Moghedien höher in der Gunst als Ihr.«
»Graendal?«, stieß Moghedien entsetzt hervor.
»Benutzt nicht diesen Namen!« Moridin fuhr auf dem Absatz herum. Die Flammen des brennenden Wassers schossen in die Höhe. »Man hat ihn ihr abgenommen.«
Graendal – Hessalam – setzte sich, ohne Moghedien noch einmal anzuschauen. Ja, diese Haltung war vertraut. Sie war es.
Um ein Haar hätte Moghedien vor Vergnügen gekräht. Graendal hatte ihr Aussehen stets als Keule benutzt. Nun, jetzt war es eine Keule der anderen Art. Einfach großartig! Die Frau musste sich innerlich doch ununterbrochen winden. Was hatte sie getan, um eine derartige Strafe zu verdienen? Graendals Status, ihre Autorität, die Mythen, die sie inspiriert hatte – das alles hatte in ihrer Schönheit gefußt. Und jetzt? Ob sie wohl anfing, nach den hässlichsten Menschen auf der Welt zu suchen, um sie sich als Schoßtiere zu halten, als die Einzigen, die mit ihrer Hässlichkeit konkurrieren konnten?
Diesmal musste Moghedien lachen. Ein leises Lachen, aber Graendal hörte es. Der Blick, den die Frau ihr zuwarf, hätte gereicht, um selbst einen Teil des Ozeans anzuzünden.
Moghedien erwiderte ihn seelenruhig und fühlte sich nun selbstbewusster. Sie widerstand dem Drang, das Cour’souvra zu streicheln. Tu, was immer du willst, Graendal, dachte sie. Jetzt sind wir ebenbürtig. Wir werden ja sehen, wer in diesem Rennen einen Kopf voraus ist.
Ein starker Wind kam auf, und die Wasseroberfläche wurde aufgepeitscht, obwohl die Plattform selbst unbewegt blieb. Moridin ließ sein Feuer erlöschen, und in der Nähe stiegen nun Wellen empor. Moghedien konnte darin Körper ausmachen, die kaum mehr als dunkle Schatten waren. Einige waren tot. Andere kämpften sich nun ohne die Ketten nach oben, aber kurz bevor sie die Luft erreichten, zog sie stets etwas nach unten.
»Wir sind nun wenige«, sagte Moridin. »Wir vier und die, die am schlimmsten bestraft wird, wir sind der Rest. Von der Definition her macht uns das zu den Stärksten.«
Einige von uns sind das auch, dachte Moghedien. Aber einer von uns wurde von al’Thor getötet und brauchte die Hilfe des Großen Herrn, um zurückkehren zu können, nicht wahr, Moridin? Warum war er eigentlich nie für sein Versagen bestraft worden? Nun, es war besser, in den Handlungen des Großen Herrn nie zu lange nach Gerechtigkeit zu suchen.
»Trotzdem sind wir zu wenige.« Moridin wedelte mit der Hand, und auf der Seite der Plattform erschien ein Torbogen aus Stein. Kein Wegetor, einfach nur eine Tür. Das war Moridins Traumsplitter; er kontrollierte ihn. Die Tür öffnete sich, und ein Mann trat auf die Plattform.
Er hatte dunkles Haar und die Züge eines Saldaeaners – eine leicht gebogene Nase, leicht schräg gestellte Augen. Er war hochgewachsen und sah gut aus, und Moghedien erkannte ihn. »Der Anführer dieser gerade erst entstandenen männlichen Aes Sedai? Ich kenne diesen Mann, Mazrim …«
»Dieser Name wurde verworfen«, sagte Moridin. »So wie jeder von uns das verwarf, was wir waren und wie uns die Menschen nannten, als wir auserwählt wurden. Von diesem Augenblick an soll dieser Mann allein als M’Hael und einer der Auserwählten bekannt sein.«
»Ein Auserwählter?« Hessalam schien an dem Wort zu ersticken. »Dieses Kind? Er …« Sie verstummte.
Es stand ihnen nicht zu, darüber zu debattieren, wer zum Auserwählten berufen wurde. Sie durften sich untereinander streiten, auch Intrigen schmieden, wenn sie dabei Sorgfalt walten ließen. Aber den Großen Herrn infrage zu stellen … das war nicht erlaubt. Niemals.
Hessalam sprach nicht weiter. Moridin hätte es niemals gewagt, diesen Mann einen Auserwählten zu nennen, hätte der Große Herr dies nicht entschieden. Dagegen gab es keine Einwände. Trotzdem fröstelte Moghedien. Taim … M’Hael … sollte angeblich sehr stark sein, vielleicht sogar so stark wie der Rest von ihnen, aber einen aus diesem Zeitalter zu erheben, die alle nicht das geringste Wissen ihr Eigen nannten … Die Vorstellung, dass dieser M’Hael als ihr ebenbürtig betrachtet werden würde, drehte ihr den Magen um.
»Ich lese Widerspruch aus euren Blicken«, sagte Moridin und sah sie nacheinander an, »auch wenn nur eine von euch dumm genug war, das auszusprechen. M’Hael hat seine Belohnung verdient. Zu viele von uns warfen sich in Auseinandersetzungen mit al’Thor, als man ihn noch für schwach hielt. M’Hael errang stattdessen Lews Therins Vertrauen und übernahm dann den Befehl über die Ausbildung seiner Waffen. Er erhob eine neue Generation von Schattenlords für die Sache des Schattens. Was habt denn ihr drei seit eurer Befreiung vorzuweisen?«
»Ihr werdet die Früchte sehen, die ich erntete, Moridin«, sagte Demandred in gefährlich leisem Tonfall. »Ihr werdet sie in Scheffeln und Herden zählen. Vergesst nur nicht meine Forderung: ich trete al’Thor auf dem Schlachtfeld gegenüber. Sein Blut gehört mir und niemandem sonst.« Er blickte sie nacheinander an, M’Hael als Letzten. Zwischen ihnen schien eine gewisse Vertrautheit zu bestehen. Sie waren einander schon begegnet.
M’Hael lächelte weiterhin. Mit dem hast du einen Rivalen, Demandred, dachte Moghedien. Er will al’Thor fast genauso sehr haben wie du.
In letzter Zeit hatte sich Demandred verändert. Einst wäre es ihm egal gewesen, wer Lews Therin nun tötete – Hauptsache, der Mann starb. Was hatte ihn nur dazu veranlasst, so darauf zu beharren, das selbst zu erledigen?